Abendrot und Morgenrot

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal eine Frau, die gebar zur Abendzeit ein Mädchen, das sie Abendrot nannte. Zwei Jahre später brachte sie frühmorgens ein Mädchen auf die Welt. Daher nannte sie es Morgenrot. Drei Jahre später starben die Frau und ihr Mann, und die beiden Mädchen wurden zu Waisen. So musste die Schwester der Frau die Kinder nehmen und für sie sorgen, denn sie hatte viel Geld geerbt. Allerdings kümmerte sich die Tante wenig um die Mädchen. Abendrot war garstig und hinterlistig, ihre Schwester aber nett und freundlich. Eines Tages sprach Abendrot zu ihr: „Nimm den Korb, geh auf den Berg und fülle ihn mit den Disteln, die oben auf der großen Almwiese wachsen!“ Da erwiderte Morgenrot: „Warum soll ich Disteln sammeln gehen? Die zerkratzen mir meine zarten Hände!“ Abendrot schrie: „Du widerspenstiges Ding! Tante hat gesagt, ich bin die Ältere und du musst mir gehorchen! Also geh und sammle Disteln!“ Morgenrot ging mit dem Korb auf die besagte Almwiese. Dort traf sie auf ein kleines Männlein, das ihr kaum bis an die Knie reichte. Es fragte sie: „Junges Fräulein! Was machst du hier?“ „Ich muss Disteln sammeln gehen. Meine Schwester hat mich gezwungen“, antwortete sie. „Dann hast du eine ganz üble Schwester. Weißt du was? Nimm hier mein kleines rotes Tüchlein. Das wird dir Glück bringen.“ Sie war erstaunt und wusste nicht, ob sie das kleine Tüchlein annehmen sollte, tat es aber doch und bedankte sich.

Sie sammelte daraufhin Disteln, die auf der Wiese wuchsen, und füllte mit ihnen den Korb. Ihre Hände taten ihr sehr weh, doch es half nichts. Als sie wieder zu Hause ankam, nahm Abendrot ihr den Korb ab und warf die Disteln in die Schuhe der Tante. Als diese ihre Schuhe anziehen wollte, um einen Abendspaziergang zu machen, stachen sie die Disteln. Da wurde sie zornig und rief die zwei Schwestern herbei. Als sie fragte, wer das getan hatte, sprach Abendrot: „Sieh dir unsere Hände an! Die mit den zerkratzten Händen wird es getan haben!“ Abendrot zeigte ihre und sagte zu ihrer Schwester: „Komm, lass uns doch deine sehen!“ Morgenrot streckte ihre zerkratzten Hände aus und die Tante wurde sehr zornig. „Du falsches Ding, du hast das getan! Ich werde dich bestrafen! Morgen wirst du jede Menge Hausarbeit verrichten und unsere Wäsche waschen!“, schrie die Tante erbost.

Am nächsten Tag hatte Morgenrot viel zu arbeiten. Da kam Abendrot und nahm, ohne dass ihre Schwester es merkte, den Lieblingsmantel der Tante und tauchte ihn in Schlamm. Als Morgenrot die Wäsche im Garten aufgehängt hatte und ins Haus ging, eilte ihre böse Schwester zur Wäscheleine und hing den verschmutzten Mantel auf. Abends sah sich die Tante die Wäsche an und erschrak sehr, als sie ihren Mantel komplett verschmutzt sah. Sie rief Abendrot herbei und fragte: „Siehst du den Mantel? Wie konnte das denn bloß geschehen?“ „Liebe Tante“, antwortete das Mädchen bescheiden, „du hast Morgenrot aufgetragen, die Wäsche zu waschen. Sie ist aber dumm und ungeschickt. Daher ist dein Mantel nun voll mit Schlamm.“ Da wurde die Tante fuchsteufelswild und rief Morgenrot zornig herbei. „Was fällt dir ein, meinen Mantel derart zu beschmutzen?“, brüllte sie wütend. „Liebe Tante, ich habe den Mantel nicht beschmutzt.“ „Lüg mich nicht an! Du hast doch die Wäsche aufgehängt! Hältst du mich für dumm?“ „Nein, liebe Tante“, antwortete das Mädchen ängstlich, „ich weiß nicht, was mit deinem Mantel geschehen ist.“ Die Tante schrie: „Zur Strafe musst du morgen so lange das Haus putzen, bis es ganz sauber ist! Und wenn du zum Morgengrauen nicht fertig bist, werf ich dich aus dem Haus!“

Am nächsten Tag begann Morgenrot das Haus zu putzen und sie gab sich alle Mühe, dass es strahlend sauber wurde. Doch ihre Schwester verschmutzte immer wieder den Boden. Das verärgerte Morgenrot und sie sagte zu ihr: „Mache doch nicht den Boden dreckig! Du weißt, dass mich sonst die Tante hinauswirft!“ „Das ist mir doch egal!“, herrschte Abendrot sie an und eilte davon. Ihre Schwester arbeitete den ganzen Tag und die ganze Nacht lang, bis zum Morgengrauen. Als sie fertig war, kam Abendrot und machte die Küche schmutzig. Ihre Schwester erschrak sehr und wusste in ihrer Verzweiflung nicht, was sie tun sollte. Da nahm sie das rote Tüchlein, das sie vom Männlein auf der Almwiese erhalten hatte, weil es ihr Glück bringen sollte. Es wurde auf einmal ganz groß, sodass sie damit gut putzen konnte. Tatsächlich ging mit dem roten Tuch die Arbeit erstaunlich schnell voran. Plötzlich klopfte jemand an die Tür. Morgenrot dachte sich: „Wer mag das sein, so früh am Morgen?“ Sie eilte zur Türe und öffnete einem jungen Mann, der sprach: „Guten Morgen! Ich war einst das verwunschene Männlein auf der Almwiese und weil du mein Tuch benutzt hast, hast du mich erlöst! Ich bin ein Prinz!“ Da freute sich Morgenrot und erzählte dies ihrer Schwester, die darüber sehr zornig wurde. Sie ging wieder in die Küche, um sie dreckig zu machen. Da erwachte auch die Tante und verließ ihr Zimmer. Abendrot ging zu ihr und sprach: „Liebe Tante! Morgenrot, das faule Ding, hat die Küche nicht geputzt! Stattdessen hat sie mit dem jungen Mann da die ganze Nacht geredet! Als Strafe musst du sie hinauswerfen und ihn mir zum Mann geben!“ Da wurde die Tante so zornig, dass sie Morgenrot packte und hinauswerfen wollte.

Aber da wurden ihre Hände lahm und sie erschrak sehr darüber. Auch Abendrot wurde bestraft: ihre Hände waren plötzlich so zerkratzt, als ob sie Disteln gesammelt hätte, und auch ihr Kleid und ihre Schuhe waren auf einmal voll mit Schlamm. Da sagte der Prinz zur Tante: „Du hast deiner hinterlistigen Nichte Abendrot geglaubt und warst stets böse zu der anderen. Daher seid ihr jetzt bestraft worden. Ich nehme Morgenrot mit auf meine Burg.“ Die beiden Bestraften waren aber zutiefst erschrocken und baten Morgenrot um Verzeihung. Diese vergab ihnen und die beiden wurden wieder heil. Der Prinz nahm Morgenrot aber mit in seine Burg und heiratete sie.

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