Es war einmal ein Mann, der lebte mit seiner Frau in einem Haus nahe dem Wald. Die Frau wurde schwanger und als sie ein Mädchen gebar, blühten die Aurikeln so schön. Daher nannten sie das Kind Aurikelchen. Ein paar Jahre später starb die Frau und der Mann heiratete bald darauf eine andere, die selbst eine Tochter in Aurikelchens Alter hatte. Es dauerte nicht lange, da starb der Vater. Aurikelchen musste von nun an bei der Stiefmutter und deren Tochter heranwachsen, unter denen das Mädchen sehr zu leiden hatte. Aurikelchen musste viel Arbeit tun und hatte dabei kaum etwas zu essen. Die Stiefmutter sagte: „Du bist für die Arbeit da, du sollst mir und deiner Stiefschwester nichts wegessen!“ Eines Tages ging das arme Mädchen hungrig in den Wald, um dort nach Beeren zu suchen. Da kam eine steinalte Frau mit einem großen Buckel daher. Ihre grauen, langen Haare waren nur teilweise von einem Kopftuch bedeckt und ihr Gesicht war voller Falten. Aurikelchen erschrak sehr, als es sie sah, doch die alte Frau sprach freundlich: „Was fürchtest du dich? Ich alte Frau tu dir doch nichts zuleide! Wie mager du doch bist! Bekommst du nichts zu essen?“
Da seufzte das Mädchen und antwortete: „Nein, ich leide großen Hunger. Ich muss zwar jeden Tag viel kochen, aber darf davon nur ganz wenig essen.“ „Na, wer isst das denn dann?“ „Meine Stiefmutter und ihre Tochter.“ Da sagte die Alte: „Verstehe, dann hast du ja ein hartes Leben. Weißt du was? Ich habe eine köstliche Suppe gekocht. Du darfst sie essen. Sie wird dir viel Glück bringen und nicht nur deinen Hunger stillen.“ Dann gab sie dem Mädchen eine Schüssel mit warmer Suppe. Da freute es sich, bedankte sich herzlich und ging mit der Schüssel zum Waldrand, wo eine Bank stand. Dort wollte Aurikelchen die Suppe essen. Aber plötzlich kam da ein Wildschwein daher und das Mädchen erschrak dabei so sehr, dass ihm die Schüssel aus der Hand fiel und es die Suppe verschüttete. Es rannte in den Wald, doch das Wildschwein war dem Mädchen nicht nachgelaufen. Trotzdem war es sehr traurig, da es die köstliche Suppe nicht essen konnte. Also musste es mit leerem Magen nach Hause gehen.
Bald darauf ging Aurikelchen wieder in den Wald, weil es hoffte, endlich mehr reife Beeren finden zu können. Da traf das Mädchen wieder auf die alte Frau, die es fragte: „Kind, wie hat dir denn meine Suppe geschmeckt?“ „Ach“, antwortete es seufzend, „ich habe die Suppe verschüttet, weil mich ein Wildschwein erschrocken hat.“ „Sei nicht traurig, mein Kind! Sieh her! Hier habe ich eine Wurst! Du wirst sehen, sie wird dir nicht nur den Magen füllen!“ Da bedankte sich Aurikelchen und ging mit der Wurst weg. Als es aber zu einem Häuschen gelangte, das am Waldesrand stand, kam ein Hund herbeigelaufen. Wieder erschrak es sehr und warf aus Angst dem Hund die Wurst zu. Dieser schnappte sie sich und lief damit zum Häuschen zurück. Also musste das Mädchen weiterhin Hunger leiden. Ein paar Tage später ging Aurikelchen noch einmal in den Wald und sah auch die alte Frau wieder. Diese fragte: „Hat dir die Wurst geschmeckt?“ „Ach“, antwortete es, „ein Hund hat mich erschrocken und ich gab sie ihm.“ „Du bist aber auch recht ungeschickt. Heute geb ich dir einen Kuchen. Aber verlier den nicht und pass darauf auf. Er kann mehr als nur Hunger stillen.“ Aurikelchen bedankte sich wieder und nahm den Kuchen an. Es ging nun aber nicht weit und wollte bald den Kuchen essen. Der war so köstlich, wie das Mädchen nur selten einen gegessen hatte. Es wollte sich aber ein Stückchen davon aufheben und ging damit nach Hause.
Daheim hörte es, wie seine Stiefmutter und deren Tochter im anderen Raum viel redeten, aber es hörte sich nicht so an, als ob sie einander hören würden. Aurikelchen fand dies eigenartig. Dann ging die Stiefmutter in das Zimmer, in dem Aurikelchen putzte. Es hörte die Stiefmutter sagen: „Bald werde ich dich nicht mehr sehen müssen“. Dabei hatte diese aber den Mund nicht bewegt. Das Mädchen merkte, dass es nun Gedanken lesen konnte, und war sehr verwundert darüber. Dann fiel ihm ein, dass die Alte im Wald gesagt hatte, dass ihr Essen mehr kann als nur Hunger stillen. Die Stiefmutter wollte aber ihre Tochter mit einem vornehmen Mann verheiraten und das arme Aurikelchen aus dem Weg schaffen. Es hörte die Stiefmutter denken: „Nicht, dass du jemandem davon erzählst, dass wir dich wie eine Magd behandelt haben. Daher sollst du lieber sterben, bevor du uns verrätst.“ Da erschrak es und wusste nicht, was es nun machen sollte.
Am nächsten Tag konnte Aurikelchen die Gedanken nicht mehr lesen. Daher ging das Mädchen in sein Kämmerlein, um ein Stück vom restlichen Kuchen zu essen, und konnte dann wieder hören, was andere dachten. Dann hörte es, dass seine Stiefmutter es vergiften wollte. Also beschloss Aurikelchen zu seiner Tante zu fliehen, die alt war und weit entfernt lebte. Seine Stiefschwester war aber sehr neugierig und schaute des Öfteren in Aurikelchens Kämmerlein, wenn dieses nicht da war. Sie ging hinein und fand das Tuch, in das der Kuchen eingewickelt war. Sie fragte sich, woher ihre Stiefschwester den Kuchen hatte, und probierte ein Stück davon. Dann ging sie wieder hinaus. Da sie nun auch Gedanken lesen konnte, war es ihr möglich, Aurikelchens Fluchtpläne zu erfahren. Dieses wollte aber spätabends fliehen. Die Stiefschwester erzählte das ihrer Mutter und diese wurde sehr böse. Beide wollten Aurikelchen auflauern und warteten vor der Kammer des Mädchens. Zum Glück konnte es die Gedanken hören und floh daher durch das Fenster. Aber auch die Stiefschwester konnte Aurikelchens Entschluss hören und machte die Tür zur Kammer auf, doch es war zu spät. Aurikelchen war gerade noch entkommen. „Soll ich ihr nachlaufen, Mutter?“, fragte die Stiefschwester aufgeregt. „Ja“, antwortete die Mutter, „aber nimm diesen besonderen Sack hier mit. Wenn du diesen über sie wirfst, wird sie davon eingefangen und von selbst nicht mehr herauskommen.“ Die Tochter lief dem Mädchen mit dem Sack hinterher. Es war schon recht finster, aber es war noch nicht stockdunkel.
Aurikelchen musste den Waldrand entlanglaufen. Da stand wieder die alte, bucklige Frau und fragte das Mädchen: „Was rennst du so spät in der Dunkelheit umher?“ Da antwortete es keuchend: „Meine Stiefmutter trachtet mir nach dem Leben.“ „Mein Kind! Wie furchtbar! Aber keine Angst! Ich gebe dir ein Kleid, das schwärzer als die Nacht und jetzt daher nicht zu sehen ist. Das sollst du anziehen. Dann wirst du auch so unsichtbar werden und nicht einmal das Mondlicht wird dich erhellen können.“ Aurikelchen nahm das Kleid, zog es eilig an, bedankte sich und lief weiter. Tatsächlich war es unsichtbar geworden. Die Stiefschwester fand es nicht mehr und musste ohne das Mädchen nach Hause zurückkehren.
Am nächsten Tag kam Aurikelchen aber an einem sonderbaren Turm vorbei, der von zehn Wachen umgeben war. Sie hörte einen Wächter zum anderen sprechen: „Nur wegen der Sturheit des Prinzen müssen wir hier in der Hitze rumstehen. Soll er doch die Prinzessin heiraten!“ Da blickte sie hinauf und sah den schönen Prinzen traurig am obersten Fenster des Turms stehen. Doch dann trafen sich ihre Blicke und sie verliebten sich. Der Prinz schrieb auf ein Blatt ein paar Zeilen und er ließ eine Taube, die bei ihm saß, Aurikelchen die Nachricht überbringen. Auf dem Blatt stand:
„Ach, du holde Schönheit,
ich wär so gern befreit.
In diesem Turm gefangen
muss ich so sehr bangen.
Kämest du doch nur zu mir
und rettest mich von hier.“
Aurikelchen wartete bis zur Nacht und zog sich das schwarze Kleid an und konnte so unbemerkt in den Turm. Es ging hinauf bis zur obersten Kammer, in der der Prinz war. Da zog es sein schwarzes Kleid aus und klopfte an die Tür. Der Prinz öffnete sie ganz verwundert. Aurikelchen sprach: „Entschuldigt, Eure Hoheit! Aber da ich las, dass Ihr hier gefangen seid, wollte ich Euch helfen!“ „Ja, weil ich nicht die eitle Prinzessin des Nachbarlandes heiraten will. Daher hat mich mein Vater in diesen Turm eingesperrt, bis ich endlich einwillige. Doch nun bin ich schon fünf ganze Monate hier. Mein Vater soll sehen, dass ich nicht nachgeben werde. Wie bist du hier hereingekommen?“ Aurikelchen zeigte ihm das tiefschwarze Kleid und sagte: „Ich habe von einer alten Frau dieses sonderbare Kleid bekommen. Wenn ich das trage, kann mich nachts niemand sehen.“ Der Prinz wollte mit dem Mädchen fliehen und es zog das Kleid an und wurde unsichtbar. Als er Aurikelchen berührte, wurde er auch unsichtbar und sie konnten ungesehen entkommen. Als man aber den Prinzen nicht mehr fand, machten sich seine Eltern große Sorgen um ihn. Dann gingen eines Nachts der Prinz und Aurikelchen heimlich ins Schloss. Das letzte Stück Kuchen, das Aurikelchen hatte, war aber noch nicht schlecht geworden. Es aß ihn, damit es die Gedanken des Königs lesen konnte. Dieser sehnte sich so nach seinem Sohn, dass er ihn nicht mehr bestrafen wollte, wenn er nur heimkäme. So konnte der Prinz mit Aurikelchen vor den König treten und dieser freute sich sehr, seinen Sohn wiederzuhaben. Er ließ die beiden heiraten und sie lebten glücklich bis an ihr Ende.
© Anders Baumgartner. Alle Rechte vorbehalten.