Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten einen Sohn namens Andreas und eine Tochter namens Elisabeth. Die Frau lag aber auf dem Sterbebett, als die Kinder ein paar Jahre alt waren. Sie sagte: „Kinder! Euer Vater wird bald wieder heiraten, damit er sich nicht allein um euch kümmern muss. Eure Stiefmutter soll gütig und liebevoll zu euch sein. Wenn sie aber böse ist, sollt ihr diese Schatulle da hinten öffnen. Darin werdet ihr etwas finden, das euch helfen wird.“ Bald darauf starb die Mutter. Der Vater wartete zwei Jahre, bis er eine andere Frau ehelichte. Die Frau war schön und reich, besaß aber ein kaltes Herz. Sie hatte auch eine Tochter, die sehr hochnäsig war.
Wenn der Vater außer Haus war, wurden Andreas und Elisabeth von ihrer Stiefschwester gehänselt. Auch die Stiefmutter war böse und streng und ließ die beiden arbeiten. Da sagte Andreas zu seiner Schwester: „Seitdem unsere Mutter nicht mehr lebt, haben wir es nicht mehr gut. ´Was sollen wir bloß machen?“ Die Schwester zuckte mit den Achseln. Da fiel Andreas etwas ein. „Mutter hatte uns doch gesagt, dass wir die eine Schatulle öffnen sollen, wenn wir eine böse Stiefmutter haben.“ Das Mädchen nickte und sagte: „Ja, da hinten ist sie!“ Andreas nahm die Schatulle und öffnete sie. Da fanden die Kinder ein Vögelchen darin. „Wie konnte nur ein Vöglein in der Schatulle leben?“, fragte Andreas verwundert. Da begann es zu singen und der Gesang war so herrlich, dass die Kinder eine wahre Freude daran hatten, ihm zu lauschen. Auch die Stiefmutter und ihre Tochter hörten den Gesang und waren verwundert. „Das klingt ja so, als ob es aus dem Zimmer der Kinder käme!“, sagte die Stiefmutter. Sie und ihre Tochter gingen zur Kammer der Kleinen und machten die Tür auf. Da verwandelte sich das Vögelchen in einen Drachen, der Feuer auf die Stiefmutter und ihre Tochter speien wollte. Diese erschraken so sehr, dass sie aus dem Haus rannten und nicht mehr hineinwollten.
Als der Vater spätabends nach Hause kam, war es dunkel. Er sah seine Frau und seine Stieftochter und fragte sie überrascht: „Was macht ihr zu später Stunde hier draußen?“ „Da ist ein Drache in diesem Haus!“, schrie die Stiefmutter. „Was? Wieso soll ein Drache im Haus sein? Was redest du da?“ „Das ist wahr!“ Auch ihre Tochter sagte: „Mutter sagt die Wahrheit! Er wollte uns mit Feuer bespeien!“ „Auf keinen Fall gehe ich da noch einmal hinein!“, fügte die Stiefmutter hinzu. Da fragte er: „Und wo sind Andreas und Elisabeth?“ „Die sind im Haus!“ Er erschrak und rief: „Wenn die Geschichte wahr ist, dann sind sie alleine mit dem Drachen da drinnen?“ Voll Sorge eilte er hinein und rief seine Kinder. Sie antworteten ihm und liefen ihm freudig entgegen. Er fragte sie: „Wo ist der Drache?“ „Welcher Drache?“, fragten die beiden. „Eure Stiefmutter und eure Stiefschwester haben mir gesagt, dass ein Drache hier gewesen sei.“ „Davon wissen wir nichts.“ Der Drache hatte sich nämlich ins Vögelchen zurückverwandelt und dieses war urplötzlich in der Schatulle verschwunden.
Die Stiefmutter und ihre Tochter ließen sich aber nicht mehr dazu überreden, in das Haus zu kommen. Die Frau verließ ihren Mann und die Kinder waren froh. Doch der Vater sprach: „Ich will aber, dass ihr eine Mutter habt, die sich um euch kümmert.“ So zog bald eine Frau in das Haus ein, die zwei Töchter hatte. Sie nahm aber auch ihre Magd mit, die für sie arbeitete. Die beiden Schwestern waren unansehnlich und streitsüchtig. Sie quälten auch Andreas und Elisabeth tagtäglich. Ebenso war die neue Stiefmutter böse und herzlos. Nur die Magd war freundlich zu ihnen. „Ach, Schwester“, sprach Andreas, „die neue Stiefmutter hat uns gleich zwei böse Schwestern gebracht. Da ging es uns bei der alten Stiefmutter noch besser! Auch wenn die Magd gut zu uns ist, aber helfen kann sie uns leider nicht viel, da sie nichts bestimmen darf.“ Seine Schwester sagte: „Schade, dass wir die Schatulle nicht noch einmal benutzen können.“ „Sehen wir doch noch einmal hinein.“ Der Bruder nahm sie und blickte hinein. Da kam wieder das Vögelchen heraus und die Kinder freuten sich. Es begann zu singen und es war herzerwärmend, ihm zuzuhören. Doch die Stiefmutter und ihre Töchter wurden auf den Gesang aufmerksam. „Was zwitschert denn da?“, fragte eine Schwester. „Ich weiß es nicht! Aber es stört mich“, erwiderte die andere. „Töchter! Das kommt aus der Kammer der Kinder! Sehen wir nach, was sie anstellen.“ Die drei gingen zum Zimmer und machten die Tür auf. Da wurde aus dem Vögelchen ein gewaltiger Lindwurm, der die Stiefmutter und ihre drei Töchter verschlingen wollte.
Diese schrien auf und liefen aus dem Haus. Der Lindwurm verwandelte sich wieder in ein Vögelchen, das bald daraufhin wieder in der Schatulle verschwand. Als der Vater spätabends nach Hause kam, sah er die Frau und ihre zwei Töchter davorstehen. „Was tut ihr denn hier draußen?“, fragte er verwundert. „Ein Lindwurm ist im Haus“, antwortete die Frau. „Wie soll der da hineingekommen sein?“, fragte er. „Das weiß ich nicht. Jedenfalls war einer da.“ Die Töchter beteuerten ebenso, dass sie den Lindwurm gesehen hatten. Da erinnerte er sich daran, wie seine frühere Frau behauptet hatte, von einem Drachen bedroht geworden zu sein. Er eilte in das Haus und rief seine Kinder. Da liefen sie ihrem Vater entgegen, doch die Magd rannte hinterher und rief: „Kinder, passt auf! Nicht, dass ein Ungeheuer da ist!“ Da fragte der Vater erschrocken: „Ach, war wirklich eines da?“ „Eure Frau und ihre Töchter sind hinausgelaufen und haben gerufen, dass sie einen Lindwurm erblickt hätten. Ich habe nur ein Vögelchen gesehen, das in der Schatulle verschwand“, antwortete sie. „Liebe Magd“, sprach Andreas, „da war doch kein Lindwurm!“ Dann wandte er sich seinem Vater zu und sagte: „Die Magd hat uns in ihre Kammer gebracht und vor dem Lindwurm beschützen wollen. Die Stiefmutter und ihre Töchter sind weggerannt, ohne sich um uns zu kümmern.“
Die Frau und ihre Kinder trauten sich auch gar nicht mehr ins Haus. Sie wollte sich von ihrem Mann trennen und so ließ er sie gehen. „Wieso nur meine Frauen und ihre Kinder Ungeheuer sahen, verstehe ich nicht. Aber womöglich ist es ein Zeichen“, sagte sich der Vater. Die Magd liebte Andreas und Elisabeth aber so sehr und war stets gut zu ihnen. So entschloss sich der Vater dazu, die Magd zu heiraten. Da freuten sich die Kinder und die Familie lebte viele Jahre glücklich und zufrieden.
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