Die Burg in der Schlucht

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal ein armer Hirtenjunge, der hatte kaum zu essen. Eines Tages ging er in die Berge, um sich Beeren zu sammeln. Plötzlich stand er vor einer engen Schlucht, in der eine Burg stand. Sie war umgeben von steilsten Felswänden und nur schwer zu sehen, da sie selbst wie eine zackige Felswand aussah. Der Junge fragte sich: „Wie kann denn hier eine Burg stehen?“ Daher wurde er neugierig und wollte zu ihr gelangen. Doch dies erwies sich schwieriger als gedacht, denn die Felswände waren sehr steil. Er kletterte mit Mühe zur wundersamen Burg, aber plötzlich trat er daneben und war dabei, abzustürzen. Da flog ein Adler daher, packte den Jungen behutsam bei seinem Hemd und flog mit ihm zur Burg. Da bedankte sich der Junge vielmals und der Adler sprach: „Du bist auserwählt. Nur deswegen hab ich dich gerettet.“ Noch bevor der Hirtenjunge etwas fragen konnte, flog der Adler davon. Dann klopfte der Kleine an das Tor der Burg und jemand antwortete ihm: „Wer bist du?“ „Ich bin ein Hirtenjunge namens Klaus.“

Da öffnete sich das Tor und der Hirtenjunge ging hinein. Er sah einen Jüngling in edlem Gewand, der enttäuscht fragte: „Du wirst mein Retter sein?“ Der Hirtenjunge verstand nicht, was das bedeuten sollte, und fragte: „Wie soll ich ein Retter sein?“ Der Jüngling antwortete: „Das weiß ich auch nicht. Du musst es aber sein, wenn du es bis hierher geschafft hast. Ich muss nämlich hier leben, bis jemand die böse Königin besiegt hat. Sie ist eine grausame Hexe, die mich töten wollte. Darum hat mich eine gute Zauberin gerettet und diese Burg für mich erschaffen, in der die Königin keine Macht hat. Nur der Auserwählte konnte hierhergelangen. Du wirst es also sein.“ Der Hirtenjunge erwiderte überrascht: „Wie soll ich dich retten? Ich bin arm und klein.“ „Ich weiß es auch nicht.“ „Wieso wollte dich denn die Königin töten?“ „Weil ich der Prinz bin. Sie ist meine Stiefmutter und sie hat Angst, dass ich sie einmal vom Thron stoße. Ah, warte. Ich soll dir dieses Säckchen, gefüllt mit Pulver hier geben. Vielleicht kann es dir helfen, die Königin zu besiegen.“ Der Prinz gab dem Hirtenjungen das Säckchen, doch dieser fragte: „Aber wo ist denn die Königin?“ „Na, in ihrer Burg“, antwortete der Prinz, „du wirst schon hineingelangen.“ Der Junge verließ die wundersame Burg und sah den Adler wieder. Dieser packte ihn behutsam und brachte ihn aus der Schlucht zur Almwiese zurück. Da fragte er den Adler: „Kannst du mich nicht zur Burg der Königin bringen?“ Der Greifvogel antwortete: „Nein, so weit kann ich mit dir nicht fliegen.“ Dann flog er davon.

Der Hirtenjunge musste nun zur Burg gehen. Er war aber neugierig und wollte wissen, was es mit dem Pulver in dem Säckchen auf sich hatte. Daher öffnete er das Säckchen und sah, dass das Pulver eine goldene Farbe hatte. Plötzlich sah er eine Schlange vor sich und erschrak dabei so heftig, dass er einen Teil des Pulvers verstreute. Die Schlange bekam etwas davon ab und löste sich daraufhin in Luft auf. Er war sehr überrascht darüber und verschloss das Säckchen wieder, denn es war noch genug Pulver darin. Da kam eine alte Frau dahergelaufen, die fragte: „Wie gibt es das? Wie kommst du zum goldenen Pulver? Damit kann man alles Böse vernichten. Ich würde es gerne haben. Was soll ich dir zahlen?“ Der Hirtenjunge war sehr überrascht darüber und hätte ihr das Pulver gern gegeben, aber er wusste, dass er es selbst brauchen würde. Das sagte er ihr, doch sie wollte nicht hören. Weil er es ihr nicht gab, wurde sie wütend und ging weiter. Sie war aber eine Hexe und sagte sich: „Na, wenn du es mir nicht geben willst, werde ich dich verfluchen. Dann wirst du das Pulver aufbrauchen müssen.“ Plötzlich wurden die Füße des Jungen lahm und er wusste nicht, wieso dies geschah. Da dachte er an das Pulver und hoffte, dass dieses ihm hier helfen könnte. Immerhin hatte die alte Frau gesagt, dass es alles Böse vernichten könne. Er streute etwas davon über seine Beine und er konnte wieder gehen. Nun hatte er aber nicht mehr viel Pulver im Säckchen. Als er ein paar Stunden gegangen war, gelangte er endlich zur Burg. Die Königin besaß in dieser einen Turm, in der sie all ihre Zauberbücher hatte und schwarze Magie ausübte. In ihm befand sich aber ein großer Tisch, auf dem lauter Zaubertränke standen, darunter auch eine Karaffe, die mit klarem Wasser gefüllt war. Als die Königin an diesem Tag den Turm betrat, ging sie wie immer zu diesem Tisch. Da sah sie, dass sich das Wasser in der Karaffe blutrot gefärbt hatte. Da sagte sie erschrocken: „Nun ist das Wasser rot; das bedeutet Gefahr. Nur wo lauert Gefahr auf mich?“ Sie nahm einen Kristall und fragte diesen: „Mein Kristall so klar, zeig mir an, was ist wahr.“

Da konnte sie mithilfe des Edelsteins alles in ihrer Burg und in ihrer nächsten Umgebung sehen. Sie sah aber nichts, was sie für gefährlich hielt, da sie auf den kleinen Hirtenjungen gar nicht achtete. Da es ihr aber keine Ruhe ließ, rief sie ihren Uhu herbei, der im Turm hauste, und befahl ihm: „Du! Halte Ausschau nach einem möglichen Feind. Das Wasser in der Karaffe hat sich rot gefärbt. Du weißt, was das bedeutet.“ Der Uhu antwortete aber widerwillig: „Eure Majestät! Ich will Euren Befehlen stets gehorchen! Aber als Eule schlafe ich tags, wie Ihr wisst. Soll ich nun Tag und Nacht wach sein?“ Da wurde die Königin wütend und schrie: „Gehorche! Halt Ausschau nach dem Feind!“ Da gehorchte der Uhu und flog aus dem Turm und überwachte die Burg. Er sah nur den Hirtenjungen am Waldesrand vor der Burg hilflos im Gebüsch sitzen. Da er auch nicht dachte, dass dies ein Feind sein konnte, beachtete er ihn nicht weiter. Aber der Junge wartete noch längere Zeit am Waldesrand und überlegte sich, was er tun sollte, um in die Burg zu gelangen. Da sah er den großen Uhu fliegen und rief: „Ach, Eule! Könntest du mich in die Burg bringen? Denn nur mit dir könnte es mir wohl gelingen.“

Der Uhu hörte das aber, flog zum Jungen, setzte sich vor ihn hin und fragte: „Wieso sitzt du hier vor der Burg und warum rufst du mich?“ Der Hirtenjunge antwortete: „Ich würde so gerne in die Burg gelangen. Du könntest mich hineinbringen.“ Da erwiderte der Uhu: „Ja, bin ich denn ein Transportmittel? Ich bin ein Diener der Burg. Warum willst du Winzling denn hinein?“ „Ich … ich will die Königin sehen.“ „Wieso? Was willst du denn von ihr?“, fragte der Uhu weiter. „Ich würde sie einfach gern sehen!“ „Ich sehe sie jeden Tag; heute habe ich auch einen Befehl bekommen, nach einem Feind Ausschau zu halten. Jetzt darf ich nicht einmal tags schlafen. Dabei scheint hier kein Feind zu sein. Du Kleiner bist sicher keiner.“ „Ist die Königin denn eine Hexe?“ „Ja, und was für eine. Sie hat viel Macht.“ „Bring mich doch wenigstens in die Burg hinein.“ Der Uhu stutzte etwas und sprach dann: „Eigentlich darf ich niemanden in die Burg lassen. Die Königin möchte dich auch bestimmt nicht in der Burg haben, selbst wo du sicher keine Gefahr darstellst.“ Doch der Junge bat den Uhu so lange, bis dieser schließlich nachgab und sagte: „Nun gut! Aber erst nachts, wenn die Königin schläft!“ Er mochte den Jungen und erfüllte ihm daher den Wunsch. Als es finstere Nacht war und nur der Mond schien, flog der Uhu den Hirtenjungen hinein. Er setzte ihn im Burghof ab, aber der Junge fragte: „Wo ist die Königin?“ „Die schläft in ihrem Schlafgemach. Nun sei froh, hier zu sein. Ich ruhe mich kurz im Turm aus“, antwortete der Vogel. „Darf ich nicht auch mit?“, fragte der Kleine. „Ach, ich will doch Ruhe. Mit dir hab ich keine.“ Der Uhu nahm ihn dann doch mit, weil er den Jungen auch nicht alleine dort stehen lassen wollte. Als sie im Turm waren, sagte der Vogel: „Rühre ja nichts an, denn das alles gehört der Königin!“ Der Junge blickte um sich und sah die Karaffe mit dem roten Wasser. Er fragte, ob das ein Zaubertrank sei. Der Uhu antwortete müde: „Ach, wegen der Karaffe da drüben ist sie verrückt geworden! Normalerweise soll da klares Wasser drinnen sein. Aber weil das blutrot geworden ist, wittert sie Gefahr!“ Bald darauf schlief der Uhu ein. Der Junge sah aber ein anderes Gefäß mit klarem Wasser. Da fiel ihm etwas ein. Er schüttete das rote Wasser aus dem Fenster und füllte das klare in die Karaffe.

Plötzlich hörte er Schritte, die immer lauter wurden. Da erschrak er heftig und versteckte sich unter dem großen Tisch, auf dem die Karaffe stand. Die Königin war in den Turm gekommen, weil sie vor Aufregung nicht schlafen konnte. Sie war sehr überrascht, als sie sah, dass das Wasser in der Karaffe wieder klar war. Dann sah sie den schlafenden Uhu und wurde sehr wütend. Sie schrie: „Wirst du wohl aufwachen, du nutzloses Federvieh! Wieso schläfst du? Warum ist das Wasser in der Karaffe nicht mehr rot?“ Der Uhu schreckte auf und wusste nicht, was er antworten sollte. Da sagte sie: „Du bist sowieso nur mehr nutzlos. Ich hätte mehr von dir, wenn du aus Gold wärst!“ Im selben Augenblick wurde die Eule zu Gold. Da lachte die Königin und blickte wieder auf die Karaffe. Langsam begann sich das Wasser wieder rot zu färben. Sie sprach: „Dann hat der Vogel mich wohl betrügen wollen. Ich brauche aber zuverlässige Diener.“ Dann rief sie drei Geier herbei, die ihr ganz gehorsam waren. Sie befahl ihnen, nach dem Feind Ausschau zu halten. Der Junge saß unter dem Tisch und hatte große Angst, dass ihn jemand sehen könnte. Die drei Geier flogen los und umkreisten die Burg. Die Königin blieb aber unruhig und wollte unbedingt wissen, wo sich der Feind befinde. Sie stöberte lange in ihren vielen Zauberbüchern, bis sie etwas fand, womit sie einen Feind ausfindig machen konnte. „Nun werde ich ihn bestimmt finden!“, rief sie und lachte laut auf. Dann braute sie einen Trank und als er fertig war, fragte sie: „Trank der Wahrheit, sage mir an, wo ich den Feind finden kann!“

Da begann dieser zu schäumen und es zeigten sich Buchstaben im Trank. Sie konnte darin lesen: „Unter dem Tisch ist dein Feind schon, es ist doch ein kleiner Hirtensohn.“ Sie erschrak und auch der Junge schreckte auf. Da fiel ihm das Säckchen mit dem Pulver ein, das ihm der Prinz geschenkt hatte. Die Königin warf einen Blick unter den Tisch und sagte: „Du Kleiner sollst mein Feind sein? Aber nicht mehr lange!“ Da blies er ihr das Pulver ins Gesicht und sie schrie auf. Plötzlich verlor sie all ihre Macht und auch die Geier über der Burg verschwanden. Der Uhu wurde aber wieder lebendig. Plötzlich erschien die gute Zauberin, die den Prinzen gerettet hatte, und sagte zum Hirtenjungen: „Gut gemacht! Ich durfte die Königin nicht besiegen, aber mit dem Zauberpulver hast du ihr die Macht genommen. Ich werde den Prinzen wieder hierher zurückbringen.“ Die Königin wurde aber in den Kerker geworfen. Der Prinz beschenkte den Hirtenjungen, sodass dieser niemals mehr Hunger leiden musste.

© Anders Baumgartner. Alle Rechte vorbehalten.