Der Liebesbrief

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal ein vornehmer Geschäftsmann, der hatte eine liebreizende Tochter. Er war oft auf Reisen aufgrund seiner Arbeit und nur die Haushälterin war bei der Tochter daheim. Eines Tages kam der Vater aufgeregt nach Hause und gab seiner Tochter einen Brief. Er sprach: „Nimm diesen Brief hier, mein Spätzchen! Diesen hat dir ein junger Edelmann geschrieben, den ich auf meiner Heimreise kennen lernen durfte. Er lebt in einem kleinen Schloss, in dem ich auch übernachtete. Der junge Mann ist gar freundlich, gesittet, von hohem Hause und elegant. Er hat dich bereits gesehen, als du auf einem Fest warst und hat dich sofort wiedererkannt, als ich das Bild von dir zeigte. Dann erzählte ich über dich und er schrieb den Brief. Er würde dich gerne kennen lernen und sich mit dir verloben.“ Da war die junge Frau überrascht, nahm den Brief und las ihn. Darin stand:

„Eure Augen so blau wie das Himmelszelt
und Euer Gesicht, das mir so sehr gefällt,
entfachen Freude in meinem Herzen,
Euch nicht zu sehen bereitet Schmerzen.
Darum wünsche ich Euch bald zu sehen,
um Euch meine Zuneigung zu gestehen.“

Die junge Frau war höchst erfreut über den Brief. Der Vater sprach aber: „Übermorgen muss ich wieder fort. Wenn ich aber nach zwei Wochen wieder hier bin, wird er uns besuchen kommen.“ So reiste er wieder ab. Aber nach drei Tagen kam der junge Edelmann in seiner edlen Kutsche zum Haus der jungen Frau. Er klopfte an die Tür und die Haushälterin machte auf. Doch sie war sehr verwundert, dass da ein Mann mit unschönem, entstelltem Gesicht und weißen, ungepflegten Haaren stand. „Ich bin der Edelmann Johann von Witten und bin hier, das Fräulein Adelheid zu besuchen.“ „Das könnt Ihr nicht sein. Er hatte auch erst vor, in einigen Tagen kommen“, erwiderte sie. „Ich wollte das Mädchen schon jetzt wiedersehen.“ Da war die Haushälterin recht verwirrt und rief die Tochter des Geschäftsmannes. Sie kam, er stellte sich vor und bat um Einlass. Da erschrak sie und sprach: „Nein, das könnt nicht Ihr sein! Ihr seid auch zu früh!“

Daraufhin sagte er ihr das Gedicht, das er ihr geschrieben hatte. Da war sie sehr überrascht und fragte: „Dann seid Ihr es wirklich?“ „Ja, ich bin es! Und ich bin so froh, Euch sehen zu dürfen.“ Sie ließ ihn herein, obwohl sie sehr unglücklich über seine Erscheinung war. Er redete mit ihr und sie empfand ihn sehr wohl freundlich und gebildet, aber konnte sein Aussehen nicht leiden. „Euer Vater würde sich freuen, wenn wir uns vermählen würden. Was sagt Ihr dazu?“ Sie schwieg verlegen. „Ist mein Antlitz denn derart hässlich für Euch?“, fragte er. Nach einer kurzen Stille sprach sie: „Ihr seid nicht so, wie ich mich Euch vorgestellt hatte.“ „Wie habt Ihr mich vorgestellt? Mit schönem, dichtem Haar und feinem Gesicht?“ Sie schwieg und richtete ihren Blick verlegen zu Boden. „Warum könnt Ihr mich nicht lieben, so wie ich bin?“ Sie sagte nichts und er war recht traurig. Später zeigte sie ihm seine Gästekammer. In der Nacht war plötzlich ein Lärm im Erdgeschoß zu hören. Der Gast stand auf und ging hinunter.

Da sah er, dass dort zwei Diebe eingebrochen waren und im Haus standen. Er rief laut: „Verschwindet, Ihr Unholde!“ Da erschraken sie, liefen davon und der eine schrie dem anderen zu: „Du hast gesagt, der Geschäftsmann ist nicht im Haus!“ Da waren sie fort und die Haushälterin und die Tochter des Geschäftsmannes gingen zum Gast und fragten ihn, was denn geschehen sei. Er sagte, er habe zwei Einbrecher vertrieben. Da waren sie sehr dankbar und die Tochter des Geschäftsmanns sprach: „Ich hatte den Lärm gehört und mich nicht hinuntergetraut. Ach, wie gut, dass Ihr da wart!“

Am nächsten Morgen beim Frühstück sagte sie zu ihm: „Wahrlich, Euch haben wir zu verdanken, dass wir nicht ausgeraubt wurden!“ Nach dem Essen fragte er sie: „Empfindet Ihr nicht etwas mehr für mich?“ „Mein Herr, fragt mich das bitte nicht! Ich kann nichts anderes als gestern Abend antworten. Nur Eure Augen … die gefallen mir sehr.“ Sie wandte sie kurz von ihm ab, aber als sie ihn wieder ansah, kam ihr vor, dass sein Gesicht ein wenig ansehnlicher war. Auch seine Haare waren nicht mehr weiß, sondern grau. Sie erschrak sehr und sagte: „Ihr seht nun so verändert aus!“ „Ihr scheint Euch zu irren“, sagte er und richtete die eingebrochene Tür.

Es begann aber ein heftiger Sturm und der Edelmann sprach zur jungen Frau: „Es tut mir leid, aber heute kann ich nicht abreisen. Ich muss bis morgen bleiben.“ „Ja, so ist es gut“, antwortete sie. Der Sturm riss dem Haus aber ein paar Dachziegel herunter und es drohte, hineinzuregnen. Als der Sturm nachließ, ging der Edelmann hinaus und reparierte das Dach, und das sehr schnell. Nach getaner Arbeit ging er wieder hinein und die Tochter des Geschäftsmannes fragte: „Ihr könnt doch als Edelmann kein Dach reparieren, und das so schnell auch noch?“ „Doch, das habe ich!“ Sie ging hinaus und sah sich das Dach an. Tatsächlich war es wunderbar repariert worden. Sie war sehr verwundert darüber und ging wieder hinein. Da fragte er: „Wollt Ihr wirklich, dass Ich morgen abfahre?“ „Ihr seid freundlich und hilfsbereit! Doch ich kann Euch nicht heiraten. Auch wenn ich Eure Augen ins Herz geschlossen habe und Eure Lippen so wohlgeformt sind.“

Sie ging schnell in ihre Kammer, um sich umzuziehen, und da es bald Abend wurde, ging sie in den Speisesaal. Dort saß auch schon der Gast, der aber nun ein schöneres Gesicht und braungraue Haare hatte. Sie erschrak sehr und fragte entsetzt: „Wie habt Ihr Euer Aussehen verändert?“ „Wie sollte ich das tun können? Ihr müsst Euch irren.“ Sie war erschrocken und beschämt zugleich und setzte sich zu Tisch. Aber sie bekam fast keinen Bissen herunter, weil sie so verwundert war. Am nächsten Morgen, als sie frühstücken wollte, sagte die Haushälterin zu ihr: „Der Herr hat schon sein Mahl genommen und ist bei seiner Kutsche, um wegzufahren.“ Da eilte die Tochter des Geschäftsmannes zu ihm hinaus und rief ihm zu: „Wartet!“ Er fragte: „Was wollt Ihr denn von mir, dem Scheusal?“ „Ihr seid kein Scheusal! Ein gutes Herz und ein liebenswertes Gesicht habt Ihr!“ Da sprach er verwundert: „Mein Gesicht ist nicht sehr wohlgeformt, Ihr selbst habt es verschmäht!“ „Nein, jetzt nicht mehr! Ich würde Euch gerne zum Mann nehmen!“ Plötzlich wurde sein Gesicht ganz schön und seine Haare bekamen ein schönes Hellbraun. Sie erschrak und fragte: „Was geht hier vor?“ „Ihr habt mich erlöst, weil Ihr etwas von meinem Gesicht zu schätzen gewusst habt. Ich war nämlich verflucht worden. Nur für einen Tag lang durfte ich mein wahres Aussehen erhalten und das wünschte ich mir, als Euer Vater mich besuchte. So war er von meinem Aussehen nicht abgeschreckt.“ Da freute sie sich und die beiden heirateten bald darauf.

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