Es waren einmal ein Junge und ein Mädchen, die lebten bei ihrer bösen Stiefmutter. Sie hatten es bei ihr sehr schwer und mussten viel arbeiten. Eines Tages sagte der Junge zu seiner Schwester: „Lass uns doch von hier fliehen. Wir haben in diesem Haus ja kein Glück.“ „Aber wo sollen wir denn hin?“, fragte das Mädchen. „Zu unserer Großmutter. Die lebt doch fast einen Tag von hier entfernt. Wenn wir frühmorgens während der Dämmerung losgehen, kommen wir wohl noch vor Einbruch der Dunkelheit bei ihr an. Ich weiß, in welche Richtung wir gehen müssten. Eine Kutsche können wir uns ja nicht leisten.“ Der Junge war ein wenig älter und wusste daher den Weg. Eines Morgens wollten sie losgehen, doch die Stiefmutter war früher als sonst aufgestanden. So sagte der Junge: „Schwester, heute können wir nicht fliehen. Jetzt ist die Stiefmutter zeitig aufgestanden. Wir müssen es morgen versuchen.“ Die Kinder bekamen aber an diesem Tag besonders wenig zu essen, weil die Stiefmutter sagte, dass ein Fasttag sei. Sie aß aber heimlich alles, was sie den Kindern verweigerte. Da sagte der Junge: „Schwester, wir können auch morgen nicht weggehen, weil wir zu wenig zu essen mitnehmen können.“
Am übernächsten Morgen gingen die zwei in der Morgendämmerung los. Denn sie konnten etwas zu essen mitnehmen und die Stiefmutter schlief noch tief und fest. Als sie zu einem Waldesrand gelangten, sagte der Junge: „Lass uns durch den Wald da gehen! Ich habe gehört, dass es eine kleine Abkürzung wäre, wenn wir hindurchgingen.“ „Bist du dir sicher, dass wir durch den Wald gehen sollen, den du kaum kennst?“ „Ich denke, wir schaffen es sonst nicht vor Einbruch der Dunkelheit das Haus der Großmutter zu erreichen. Wir müssen die Abkürzung durch den Wald nehmen.“ „Und wenn wir uns verirren?“, fragte das Mädchen weiter nach. „Ein wenig kenne ich den Wald; er ist auch nicht besonders groß.“ Da willigte die Schwester ein und die Kinder gingen in den Wald. Aber schon bald merkten sie, dass sie sich verirrt hatten und nicht mehr aus dem Wald herausfanden. Da bekamen sie große Angst und der Junge sagte: „Um der bösen Stiefmutter zu entfliehen, sind wir davongelaufen. Jetzt geraten wir in die nächste Gefahr. Wenn die Nacht hereinbricht, werden wir von den Wölfen zerrissen werden.“ Die Kinder begannen zu weinen. Da erschien plötzlich ein Zwerg und fragte die Kinder: „Warum weint ihr denn?“ Das Mädchen antwortete: „Wir haben uns auf dem Weg zur Großmutter verirrt. Jetzt schaffen wir es nicht mehr rechtzeitig dorthin.“ „Warum weint ihr deswegen? Ihr könnt doch bei mir übernachten.“
Obwohl die Kinder ein wenig misstrauisch waren, folgten sie dem Zwerg in sein Häuschen im Wald. Tische, Stühle, Besteck und Betten waren sehr klein, doch für die Kinder noch groß genug. Er tischte ihnen Leckereien auf und war gut zu ihnen. Die Kinder waren sehr erleichtert und froh. Als es dunkel wurde, legten sie sich schlafen. Doch die Stiefmutter hatte heimlich einen Raben ausgesandt, damit er die Kinder suche. Er sah sie und berichtete der Stiefmutter, wo sie sich befanden. Da wurde sie zornig, weil der Zwerg ihnen geholfen hatte. „Na wartet“, sprach sie, „ihr werdet noch bitter bereuen, dass ihr mich verraten wollt.“ Am nächsten Morgen weckte der Zwerg die Kinder und sagte ihnen: „Ihr müsst bald weiterziehen, denn eure Stiefmutter hat sich etwas ausgeheckt. Ich weiß es, weil ich das Böse bereits aus der Ferne wittern kann.“ Da erschraken die Kinder sehr und der Junge fragte: „Was hat sie denn vor?“ „Das weiß ich nicht. Aber nehmt diesen Schal hier mit. Passt gut auf ihn auf! Er darf nicht nass werden, sonst kann er euch nicht mehr beschützen.“
Dann zeigte er ihnen den Weg, der aus dem Wald herausführt. Die Kinder bedankten sich und gingen mit Reiseproviant und dem Schal weiter. Es war aber ein heißer Tag und bereits mittags brauten sich pechschwarze Gewitterwolken über dem Wald. Die Kinder hatten große Angst, dass gleich ein Unwetter losgehen würde. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis ein heftiges Gewitter begann. Die Kinder versteckten sich im dichten Gebüsch. Da es aber so stark regnete, wurden sie auch hier sehr nass. Das Mädchen rief besorgt: „Ei! Der Schal! Der Schal! Er darf nicht nass werden!“ Die Kinder versuchten, den Schal vor dem Regen zu schützen, doch es half nichts. Als das Gewitter zu Ende war, sahen sie, wie durchnässt der Schal war. Nur ein Ende war trocken geblieben. „Ob er uns noch nützen kann?“, fragte das Mädchen. „Ich denke, der kann uns kaum mehr helfen“, erwiderte der Junge.
Da sahen sie plötzlich einen gewaltigen Bären auf sie zulaufen. Die Kinder erschraken sehr und begannen zu schreien. Plötzlich verwandelte sich das trockene Ende des Schals in einen großen Schlangenkopf, der furchterregend zischte und den Bären bedrohte. Dieser erschrak aber so sehr, dass er eilig davonrannte. Die Stiefmutter hatte dem Bären befohlen, die Kinder zu fressen. Als er nun zu seiner Herrin zurückrennen wollte, fiel ihm ein, dass sie ihn bestrafen würde. Er hätte doch die Kinder fressen sollen. Da traf er den Zwerg und dieser fragte: „Was siehst du so verschreckt drein?“ „Ich muss auf Befehl meiner Herrin Kinder fressen, doch die hatten eine merkwürdige Schlange bei sich. Ich traue mich nicht so recht wieder hin.“ „Du hast aber eine große Angst für einen Bären! Ich sage dir, lass die Kinder in Frieden!“ „Aber meine Herrin will, dass ich sie töte.“ „Sieh! Nimm dieses Tüchlein mit! Das hat der Junge bei mir gelassen. Gib ihr das als Beweis, dass du sie gefunden und gefressen hast.“ Der Bär nahm es misstrauisch, dachte aber, dass es die beste Lösung sei. Er zeigte das Tuch der Stiefmutter, die sich sehr darüber freute. Der Schlangenkopf hatte sich aber wieder in das Schalende zurückverwandelt und die Kinder ließen diesen dort liegen. Sie fanden auch bald wieder aus dem Wald heraus. Dann erblickten sie das Haus der Großmutter und sie freuten sich sehr, als sie sie sahen. Sie lebten fortan bei ihr und waren glücklich. Der Zwerg hatte aber noch den Schal im Wald gefunden, trocknete ihn und sprach Zaubersprüche darüber. Dann legte er ihn vor das Haus der Stiefmutter. Als sie es verlassen wollte, verwandelte sich der Schal in eine Schlange, die sie umschlang. So entnahm sie der Stiefmutter alle Zaubermacht und diese konnte nicht mehr hexen.
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