Der Schneehase

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal ein armer Mann, der in einem Häuschen an einem Berghang lebte. Eines Tages fiel im Winter recht viel Schnee. Er wollte aber am nächsten Tag in das nächste Städtchen gehen, um sich etwas zu kaufen. Als er morgens erwachte, blickte er aus dem Fenster und sah, dass der Schneefall aufgehört hatte und nur mehr wenig Wolken am Himmel waren. Nachdem er gefrühstückt und sich angezogen hatte, verließ er sein Häuschen und ging vorsichtig den verschneiten Hang hinunter. Er bestaunte die weiße Landschaft und atmete die frische Luft ein. Als er an einer Tanne vorbeiging, sprang plötzlich ein kleines Männlein aus dem Schnee und rief: „Bitte hilf mir! Ich brauche deine Hilfe!“ Da erschrak der Mann sehr und fragte: „Wie soll ich dir denn helfen?“ „Diese Tanne da gehört mir. Setze mich auf den Ast, damit ich weiter hinaufklettern kann!“ Der Mann war erstaunt, hob aber das kleine Männlein hoch und setzte es auf den untersten Ast, der bereits ziemlich hoch war. „Vielen Dank!“, sagte es und kletterte weiter hinauf. Der Mann war verwundert und ging in das Städtchen hinab.

Als er am Nachmittag wieder zu seinem Häuschen zurückging, sah er einen Schneehasen in der weißen Pracht, unweit von der Tanne entfernt. „Au weh! Au weh!“, sagte er. Der Mann merkte, wie der Hase aufgeregt im Schnee zappelte, und er fragte ihn: „Wieso bist du so aufgeregt?“ „Da ist das böse Männlein in der Tanne! Es will sie verzaubern, damit ihre Samen Böses bringen!” Da erschrak der Mann und fragte weiter: „Woher weißt du das? Und was für böse Dinge sollen sie bringen?“ „Eine gute Zauberin hat die Tanne verzaubert, damit ihre Samen den Menschen Glück bringen. Da dies dem bösen Männlein aber nicht gefallen hat, will es sie verwünschen.“ „Was kann man da tun?“ „Ein Teil der Tanne ist bereits verflucht. Aber damit das Männlein nicht noch den ganzen Baum verwünscht, müsstest du es vertreiben.“ „Ich sehe es! Vielleicht kann ich Schneebälle auf das Männlein werfen.“ Da wollte er einen Schneeball formen, doch der Hase sagte: „Warte! Lass mich ihn formen! Dann wirst du ihn bestimmt treffen.“ Da formte der Hase einen Ball und der Mann nahm ihn und warf ihn auf das Männlein. Es wurde getroffen und stürzte vom Baum in den Schnee. Es blieb dabei aber unverletzt und es wurde fuchsteufelswild.

Da eilte es zum Mann und rief: „Dafür sollen all die Samen, die von der Tanne herunterfallen, zu deinem Häuschen geweht werden! Du sollst alle Verwünschungen bekommen, die ich den Menschen geben wollte! Und durch meinen Fluch wirst du den Baum nicht fällen können!“ Da lief der Hase auf das Männlein zu, doch dieses verschwand plötzlich im Schnee. Der Hase war verwundert und sprach: „Unglaublich! Wie schnell es verschwunden ist! Ich wollte es aufhalten, doch leider ist es mir entwischt.“ Der Mann hatte aber große Angst und sagte: „Ach, was wird mir denn nun geschehen?“ „Wir müssen das Männlein finden, um es zu besiegen. Aber ich weiß nicht, wie. Vielleicht kann uns die gute Zauberin helfen, aber sie lebt hoch oben in den Bergen.“

Der Mann bereitete sich auf die Reise vor und ging am nächsten Morgen mit dem Schneehasen hinauf zur Hütte der Zauberin. Bald begann aber ein Schneesturm und der Mann konnte nur mehr schwer weiter. „Wie lange ist es noch bis zur Zauberin?“ „Es ist gar nicht mehr weit. Überwinde dich und geh weiter.“ Tatsächlich standen sie bald vor der Hütte. Der Schnee da oben lag sehr hoch und es war kalt. Der Mann klopfte an die Tür. Da antwortete eine Frauenstimme:

„Eis und Schnee,
tun dir nicht weh.
Jammern und klagen
willst du nicht wagen.
Ob Frost oder Raureif,
du wirst nicht steif.
Der beantworte eine Frag‘,
wer hier herein mag.
Siehst du ein Blümlein
in diesen Tagen fein?“

Da sagte der Hase: „Du musst ihr des Rätsels Lösung verraten.“ „Ich sehe hier aber keine Blume.“ Da sprach sie heraus:

„Ich pfleg es mit Kält‘,
wodurch es am besten hält!“

So rief er: „Die Eisblumen am Fenster!“ Daraufhin machte sie die Türe auf und sah ihn und den Schneehasen. Sie war durchaus schön, aber hatte weißes Haar und ein schneeweißes Gesicht. „Was wollt ihr denn von mir?“ Da erzählte der Mann ihr das Vorgefallene. Dann sprach sie zu ihm: „Du musst das Männlein besiegen. Nur dann hast du eine Ruhe von ihm.“ Sie sagte ihm, wo es zuhause wäre und formte dann einen Schneeball. „Nimm den hier und wirf ihn auf das Männlein. Mit meinem Schneeball wird es sicher besiegt werden. Aber pass auf, dass er dir nicht schmilzt! Ist er zu klein, nützt er nichts mehr!“ Der Mann nahm ihn dankbar an und ging nach Hause. Bevor er es betrat, legte er den Schneeball auf einen Holzhaufen, damit er drinnen nicht schmolz. Es kam die Nacht und der Hase schlief draußen neben dem Schneeball der Zauberin, um ihn zu beschützen. Am nächsten Morgen gingen sie gemeinsam in den Wald, in dem das Männlein lebte. Der befand sich aber nicht sehr hoch oben auf dem Berg, die Sonne schien durch die Wipfel und es taute. Da tropfte es von den Bäumen herunter und der Schneeball in der Hand des Mannes wurde nass und schmolz. „Ach, du meine Güte! Wir müssen das Männlein bald finden!“

Es dauerte nicht mehr lange, da fanden sie ein Loch in einer Fichte, in dem das Männlein leben sollte. Der Mann rief es und bald schaute es aus dem Loch heraus. Da warf er ihm den Schneeball auf die Brust. Doch weil dieser bereits recht klein war, wurde das Männlein nur geschwächt, aber nicht besiegt. „Na wartet“, schrie es, „ich werde mich schon noch rächen!“ Da sprang der Schneehase zum Loch hinauf und warf das geschwächte, kleine Männlein um. So wurde es besiegt und der Fluch der Tanne rückgängig gemacht.

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