Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten drei Söhne. Die Frau hätte gerne noch ein Kind gehabt, aber sie wurde nicht schwanger. Bald erfuhr sie, dass ihre Schwester bereits das achte Kind bekommen hatte und dieses von allen im Dorf wegen seiner Liebenswürdigkeit geliebt wurde. Da wurde die Frau neidisch und konnte Tag und Nacht nicht mehr schlafen. Eines Tages erfuhr sie, dass ein Zauberer im benachbarten Tal lebte. Sie entschloss sich, ihn aufzusuchen, denn sie wollte, dass er ihr durch einen Zauber zu einem Kind verhalf. Aber sie hatte Angst, dass ihr Mann etwas davon erfahren würde. So fuhr sie heimlich zu ihm und als sie vor seinem Haus stand, wurde sie von Ehrfurcht ergriffen. Sie überwand sich, ging zum Haus und klopfte an die Tür. Bald darauf machte ihr der Zauberer auf.
Er hatte einen finsteren Blick und fragte zornig: „Wer bist du und was machst du hier?“ „Verzeiht die Störung! Aber ich suche Euch auf, weil ich Eure Hilfe brauche! Ich hätte so gerne ein Kind; könntet Ihr mir nicht helfen?“ Da sagte er: „Helfen könnte ich wohl. Wer hat aber gesagt, dass ich dir Menschen Dienste erweise?“ „Ich bitte Euch! Ich gebe Euch diesen Ring hier. Er ist das kostbarste, das ich besitze!“ „Ha! Das brauch ich nicht! So einen Ring könnte ich mir leicht herzaubern! Versprich mir lieber, mir viermal im Jahr eine abgeschnittene Haarsträhne des Kindleins zu bringen. Tust du das nicht, so werde ich mir dein Kind holen!“ „Das könnte ich machen, aber wozu soll ich das tun?“ „Ich kann mit den Haaren eines Kindes besondere Dinge herbeizaubern. Willigst du ein?“ „Ja, ich willige ein!“ Dann braute der Zauberer aus mehreren Kräutern aus dem Wald einen Trank und überreichte ihn der Frau. Er sprach: „So nimm ihn; wenn du ihn trinkst, wirst du bald schwanger werden.“ Sie nahm ihn an, bedankte sich und fuhr heim. Tatsächlich wurde sie bald darauf schwanger und die ganze Familie freute sich. Sie bekam wieder einen Sohn. Dann brachte sie viermal im Jahr dem Zauberer die Haarsträhnen. Sie sagte ihrem Mann jedes Mal, dass sie zu einer Bekannten fahre. Aber ein paar Jahre später wurde sie krank und sie wollte den Zauberer zu Hilfe rufen. Doch der Tod übereilte sie und niemand brachte dem Zauberer mehr die Haarsträhnen des Jungen.
Da geriet er in Wut und wollte sich das Kind holen. Eines Nachts suchte ein Sturm das Haus der Familie heim. Am nächsten Morgen blickte der Vater aus dem Fenster und sah, dass der Sturm nur über seinem Haus gewütet hatte, was ihn sehr verwunderte. Noch mehr überraschte ihn, als sein jüngster Sohn nicht aus dem Zimmer kam, als er rief, dass er frühstücken solle. Daher öffnete der Vater die Kammer und fand den Sohn darin nicht vor. Nur das Bett war ganz zerwühlt. Er erschrak heftig und sagte das seinen anderen Söhnen. Auch sie waren ganz erschrocken und der jüngste von ihnen sagte: „Zuerst unsere Mutter und dann ist auch noch unser Kleinster fort!“ Der Vater ging hinaus und wollte die Nachbarn fragen, ob sie seinen jüngsten Sohn gesehen hatten. Doch als er bei seiner Zitterpappel vorbeiging, merkte er, wie es sie schüttelte, obwohl es windstill war. Sie hatte nur mehr ein paar gelbe Blätter, weil Herbst war. Er ging zu ihr hin und fragte sie:
„Espe, warum zitterst du so sehr?
Kommt doch gar kein Wind daher!
Weder von Osten, noch von Westen,
das weißt du doch am besten.
Auch nicht von Süden oder Norden,
kann ich einen Wind verorten!“
Da antwortete die Zitterpappel, die auch Espe genannt wird:
„Dein Sohn bei einem Zauberer ist,
das sag ich dir, weil du ihn vermisst!
Über vier Hügel in das nächste Tal,
brachte er ihn mit dem Wind auf einmal.“
Der Vater war sehr verwundert und erzählte das seinen Söhnen. Der älteste von ihnen fand heraus, dass es tatsächlich einen Zauberer im nächsten Tal gab. Die Söhne wollten ihren Bruder befreien, ohne es ihrem Vater zu sagen. Denn sie sagten: „Wir wollen unserem Vater beweisen, dass wir das können.“ Am nächsten Tag fuhr aber der älteste Sohn zum Zauberer, denn er wollte es alleine schaffen. Als er dort ankam, klopfte er sogleich an die Türe. Aber niemand machte ihm auf. So musste er erfolglos heimfahren und erzählte seinen Brüdern, dass der Zauberer niemandem aufmache und man den Kleinsten nicht retten könne. Am nächsten Tag wollten es die anderen beiden dennoch versuchen, doch der zweitälteste Bruder sagte zum jüngsten: „Nein, du bist zu jung! Das wäre zu gefährlich für dich!“ Er fuhr zum Zauberer und klopfte an die Tür, doch es öffnete auch ihm niemand. Allerdings wollte er nicht so schnell weggehen und versuchte durch die Fenster zu blicken, doch vor allen waren Fensterläden. Ein kalter Herbstwind wehte und der Bruder musste dann doch den Heimweg antreten. Am nächsten Tag begann es heftig zu schneien und es schneite drei Tage lang. Als wieder die Sonne schien, sagte der jüngste zu seinen älteren Brüdern: „Heute versuche ich, mit dem Pferd zum Zauberer zu reiten.“ Da begannen diese laut zu lachen und sagten: „Na viel Erfolg! Trab mit dem Pferd durch den Schnee und wirf dem Zauberer einen Schneeball ins Gesicht!“ Aber der Junge wollte es wirklich durchziehen und ritt zum Zauberer. Nach einer Weile kam er dort an und klopfte an die Tür. Es öffnete niemand und er wollte wieder gehen, doch da hörte er die Eiszapfen, die vom Dach des Zaubererhauses hingen und zitternd sprachen:
„Eile noch nicht heim,
teilen wir mit im Reim,
den Zauberer man nur besiegt,
wenn vor ihm eine Träne liegt.
Gelingt das dir aber dann nicht,
kriegst den Bruder nie zu Gesicht.“
Doch der Junge verstand nicht, was die Eiszapfen zu ihm sagten. „Was? Ich soll ihn nie wieder zu Gesicht bekommen? Was habt ihr von Tränen gesagt? Ich muss um ihn weinen?“ Sie antworteten zitternd:
„Ja, für deinen Bruder weine,
habe du Scheu doch keine!“
Er dachte sich, dass das bedeutete, dass er seinen Bruder nie wiedersehen würde und begann schließlich zu weinen. Seine Tränen benetzten den Schnee an der Schwelle zum Haus. Plötzlich bebte das Gebäude, die Türe öffnete sich und der kleine Bruder kam heraus. Wie freuten sich beide, als sie sich sahen! Sie umarmten sich und die Eiszapfen fielen vom Dach. Darauf brach das ganze Haus zusammen. Der drittälteste Bruder nahm die Eiszapfen und legte sie zum zur Hälfte zugefrorenen Bach, der hier floss. So konnten sie, wenn der Frühling das Eis schmelzen ließ, mit dem Bachwasser vereint werden. Dann fuhr er mit seinem kleinen Bruder zur Familie zurück. Wie freuten sich alle, dass der Kleine wieder da war.
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