Es war einmal ein junger Mann, der ging im Wald spazieren. Er wich aber vom Weg ab und verirrte sich. Da erblickte er einen Zauberer, der einen gefesselten, edel gekleideten Mann in eine Grube zerrte. Der junge Mann erschrak sehr und wusste nicht, was er machen sollte. Doch der Zauberer bemerkte ihn und fragte: „Was tust du hier? Wer bist du?“ Aber als der Mann vor Angst schwieg, ging der Zauberer auf ihn zu und sprach: „Du hast da etwas in den Augen!“ Er berührte die Augen des Mannes, der zurückzuckte. Doch es war zu spät. Der Zauberer hatte ihn geblendet und der Mann konnte nichts mehr sehen. „Was hast du getan?“, fragte er erschrocken. „Das habe ich gemacht, damit du nicht verrätst, wie man hierherkommt. Denn ich werde dich aus meinem Wald herausführen.“ Da nahm ihn der Zauberer an der Hand und zog ihn mit sich. Die Hand fühlte sich kräftig und hart an, was dem jungen Mann sonderbar vorkam. Er stolperte über Wurzeln und Pflanzen und sagte: „Lass mich los! Ich kann nicht sehen, wo ich gehe!“ „Halt den Mund! Wir sind gleich da!“ Bald ließ ihn der Zauberer los und sprach: „Wir sind am Waldrand!“ Dann wollte der Zauberer weggehen, doch der junge Mann bat: „Gib mir mein Augenlicht wieder! Ich finde so nicht einmal nach Hause.“ „Ich bin ein Zauberer, ich erfülle keine Wünsche!“ Der böse Zauberer ging fort und der junge Mann war verzweifelt und zutiefst betrübt.
Er ging vorsichtig weiter, stolperte aber immer wieder. Als er sich einer Straße näherte, fuhr ein Mann in einem Pferdewagen vorbei. Der blinde Mann rief ihm zu: „Wer da auch immer ist, hilf mir bitte!“ Der Mann im Wagen blieb stehen und fragte: „Was ist dir denn geschehen?“ „Ich wurde von einem Zauberer geblendet und finde nicht mehr heim. Kannst du mir nicht helfen?“ Doch der Unbekannte war bösartig und sagte: „Aber lass mich zuerst in deine Hosentasche greifen, wo dein Geld ist! Ich muss sehen, ob du genug Geld hast, damit ich dich nach Hause fahren kann!“ Der Geblendete ließ es zu und der andere Mann nahm sich all das Geld, setzte sich in den Wagen zurück und fuhr schnell weiter. Der blinde Mann rief ihm nach und war sehr verzweifelt. Dann setzte er sich auf den Boden und begann zu weinen. Plötzlich hörte er eine Stimme, die sprach: „Weine nicht, es gibt Hoffnung!“ Der Mann erschrak sehr und fragte: „Wer ist da?“ „Ich bin eine Raupe und sitze an deiner Hose! Als du vom Zauberer durch den Wald gezerrt wurdest, bin ich an ihr hängen geblieben. Ich wollte mich erst nicht melden, aber nun hast du mir so leidgetan. Immerhin könnte ich dir helfen.“ „Wie willst du mir denn helfen können? Du sagst doch, du bist eine Raupe.“ „Ja, das bin ich. Aber meine Eltern wurden von einer guten Hexe verzaubert. Wenn du dir etwas wünschst, werde ich es dir erfüllen.“ „Dann will ich wieder sehen können! In diesem Augenblick, bitte!“ „Nein, so schnell geht das nicht! Erst wenn ich ein Schmetterling werde, wird dein Wunsch in Erfüllung gehen.“ Da war der Mann enttäuscht und fragte: „Erst dann? Wer weiß, wie lange das dauert?“ „Ich weiß, dass du nicht warten willst, aber dir wird nichts anderes übrig bleiben. Bis dahin werde ich für dich sehen.“
Die Raupe sagte ihm, wo er gehen solle, und so fand er spätabends doch noch heim. Jeden Tag musste die Raupe aber viel fressen, um größer zu werden. Der Mann erfuhr bald, dass der Prinz des Landes entführt worden war. Da erinnerte er sich an den edel gekleideten Mann im Wald, den der Zauberer gefangen genommen hatte. „Das wird wohl der Prinz gewesen sein! Könnte ich nur zum König gelangen, um ihm zu sagen, wer seinen Sohn entführt hat!“ Doch er grübelte weiter. Dann ging er zum Fenster und rief zur Raupe hinaus, die von einem Busch Blätter fraß: „Du hast gehört, dass der Nachbar sagte, dass der Prinz entführt worden ist! Der Mann, den der Zauberer gefangen genommen hatte, wird der Prinz gewesen sein! Wir müssten zum König und ihm das berichten.“ „Woher soll ich wissen, wo die Burg steht? Wer weiß, wie weit weg die ist? Kannst du wohl so weit gehen?“ „Wir werden jemanden hier im Ort um Hilfe bitten, dass er uns zur Burg fährt.“
Ein Bekannter des Mannes fuhr ihn zur Burg und die Raupe war selbstverständlich mit dabei. Als der Mann in die Burg ging, musste er immer wieder Stufen überwinden, was ihm recht schwerfiel. Der König fragte ihn: „Was hast du mir zu verkünden?“ „Euer Majestät! Ich war im Wald und habe gesehen, wie ein Zauberer einen edel gekleideten Mann in eine Grube gesteckt hatte. Ich nehme an, es war Euer Sohn.“ Der König sah den Mann genau ins Gesicht und fragte: „Ein Diener meldete mir, du bist blind. Wie willst du meinen Sohn gesehen haben?“ „Der Zauberer hat mich erst geblendet, nachdem ich Euren Sohn gesehen hatte. Ich kann Euch aber den Ort sagen, wo dies geschah.“ Dank der Raupe konnte der junge Mann dem König den Weg zu der Stelle im Wald erklären. Denn sie war nicht weit entfernt daheim gewesen.
Der junge Mann wurde aber wieder in den Ort zurückgebracht. Diener wurden in den Wald geschickt, um den Prinzen zu retten. Doch der Zauberer vertrieb sie alle mit herbeigezauberten, wilden Tieren, wenn sie der Grube zu nahekamen. Viele Männer versuchten ihr Glück, aber sie scheiterten alle. Bald hatte die Raupe genug gefressen und spann sich in eine Puppe ein, in der sie zu einem Schmetterling heranwachsen sollte. Es dauerte noch ein Weilchen, dann riss sie sie auf und kam plötzlich als schöner Schmetterling heraus. Da begannen die Augen des Mannes zu zucken. Er machte sie weit auf und sah die Welt wie mit einem düsteren Nebel verschleiert. Dann zuckten seine Augen noch einmal und er konnte plötzlich alles leicht verschwommen und halbfinster sehen. Und noch ein drittes Mal verspürte er ein Zucken in seinen Augen. Dann konnte er alles wieder wie früher sehen. Wie freute er sich da! Er lief zum Schmetterling und bedankte sich vielmals bei ihm. „Dein Leid ist vorüber, aber der König hat noch viel Kummer!“, sagte der Schmetterling. „Was sollen wir tun? Kannst du denn noch Wünsche erfüllen?“ „Nein, ich konnte nur einen erfüllen. Aber vielleicht finden wir im Wald einen meiner Brüder und Schwestern, während sie noch verpuppt sind.“
Da nahm der Mann seinen ganzen Mut zusammen und ging am nächsten Tag mit dem Schmetterling in den Wald, wo er den Zauberer gesehen hatte. Dort sah der Schmetterling einige seiner Geschwister. „Sie können nicht mehr helfen. Man muss sich etwas wünschen, wenn sie noch nicht aus der Puppe geschlüpft sind, sonst kann der Wunsch nicht mehr in Erfüllung gehen“, erklärte ihm der Schmetterling. Da flog ein Bruder von ihm herzu und sagte: „Unser kleines Brüderchen ist immer noch in der Puppe. Das war schon immer klein und schwach und jetzt braucht es ewig lange! Man kann es einfach nur verspotten!“ Da eilten der Mann und sein Schmetterling zu der besagten Puppe. Er wünschte sich, dass der Zauberer seine Macht verlieren solle. Sie mussten aber bis zum Abend warten, bis der kleine Schmetterling herauskam. Als dies geschah, konnte man ein lautes Geräusch im Wald vernehmen. Der Zauberer war besiegt. Da kam der Prinz aus der Grube heraus und sagte: „Endlich bin ich befreit!“ Er erzählte, dass der Zauberer ihn gefangen gehalten hatte, um ihm und dem König Kummer zuzufügen und ihnen seine Macht zu zeigen. Durch den kleinen Schmetterling, der länger als die anderen brauchte, aus der Puppe zu kommen, war der Zauberer besiegt. Der Prinz kehrte zu seinem Vater zurück und alle lebten glücklich bis an ihr Ende.
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