Es waren einmal ein Edelmann und sein Sohn, die in einem Schloss lebten. Die Mutter war bereits gestorben. Eines Tages bekam der Sohn einen Brief, in dem stand, sein Onkel mütterlicherseits sei gestorben und habe ihm sein Schloss als Erbe gegeben. Das erzählte der junge Mann seinem Vater. Dieser fragte ihn: „Willst du denn in das Schloss im fernen Land ziehen?“ „Ja, Vater, das möchte ich.“ Da wurde der Vater traurig, denn er hätte seinen Sohn am liebsten bei sich gehabt. Aber er erlaubte es ihm und der Sohn reiste ab. Der junge Mann kam bei einem Baum vorbei, in dem zwei sonderbare Vögel saßen, die sangen:
„Fort, fort reist der junge Mann,
verlässt den Ort so schnell er kann!
Glaubt den anderen jedes Geschwätz,
in welchen das Ferne so geschätzt!“
Der Mann wunderte sich darüber, ließ sich aber nicht beirren. Als er im Schloss angekommen war, sah er es sich voll Freude an. Er lebte sich ein und war glücklich. Doch schon bald sehnte er sich wieder nach seinem Heimatort und seinem Vater. Die Zeit verging und der Edelmann bekam großes Heimweh, blieb aber weiterhin in seinem Schloss. Unweit entfernt befand sich aber eine Baumreihe, über die man sagte, dass dort unheimliche Wesen leben und spuken würden. Als der Edelmann eines Tages dort vorbeiritt, hörte er eine gruselige Stimme in den Bäumen. Da dachte er sich: „Nanu? Ist da wirklich etwas Wahres dran an diesen Gerüchten?“ Er ritt aber weiter und kam erst spätabends wieder auf dem Heimweg an der Baumreihe vorbei. Plötzlich fielen große Früchte von einem Baum herunter, die den Mann und das Pferd zu Boden brachten. Die Früchte hielten sie dort unten fest und waren so schwer, dass sie nicht aufstehen konnten. Plötzlich hüpfte eine Hexe aus dem Baum und sprang hinunter. Sie nahm die schweren Früchte und packte den jungen Edelmann. „Lass mich los! Wer bist du? Was tust du mit mir?“ „Lass das meine Sorge sein!“, schrie sie und ließ das Pferd davonlaufen. „Das brauchst du jetzt nicht mehr! Du sollst mein Diener sein, Fremdling!“ „Wozu brauchst du Hexe einen Diener? Zaubere dir einfach etwas herbei oder kannst du es nicht?“
Da geriet die Hexe derart in Wut, dass sie nicht wusste, was sie in ihrer Wildheit tun sollte. „Du niederträchtiger Tölpel! Na warte, du wirst deine freche Art noch bitter bereuen! Mit deinem Mundwerk wirst du kein Diener von mir werden können. Aber eine schlimme Bestrafung hätte ich für dich. Ich werde dich in einen Baum verwandeln. Und das wirst du so lange bleiben, bis du gefällt wirst!“ Da erschrak der Edelmann und sagte: „Nein! Lass mich gehen!“ „Niemals! Wegen deiner Schmähung wirst du die gerechte Strafe erhalten! Und du sollst sehen, welchen großen Zauber ich bewerkstelligen kann!“ „Wieso muss es denn ein Baum sein? Lass mich ein Vöglein sein, dann kann ich fliegen in windigen Höhen! Oder in einen Hund, den achten die Menschen als Freund! Oder in einen Stein, denn den kann keiner so leicht zerstören! Aber ein Baum, so schön er auch ist, ist den meisten Menschen zu wenig wert, er wird Feuerholz und nur in manchen Fällen ein Möbelstück.“ „Weil es eine so harte Bestrafung für dich ist, freue ich mich umso mehr, dir das anzutun. Aber sag mal, welcher Baum willst du sein? Das darfst du dir entscheiden.“ Sie sah ihn in einer frechen Art an und lachte boshaft. Er sprach aber: „Welcher Baum ich sein will? So lass mich eine Fichte sein, wie eine von denen, die im Wald oben am Berg hinter dem Schloss meines Vaters standen. Die, deren Geruch mich erquickte, als ich durch den Wald ging. Deren jungen Triebe im Frühjahr ich sammelte und aus deren Holz schöne Dinge hergestellt wurden. Nur eine Fichte will ich sein.“ Da lachte die Hexe boshaft und rief: „So ist es gut! Eine Fichte sollst du sein!“ Sie zerrte ihn ein wenig weg von der Baumreihe und rief:
„Kein Wesen aus Fleisch und Blut,
sei dieser Sohn der Menschenbrut!
Holz und Rinde soll er nun sein,
Nadeln er trage und Harz er wein!
Zapfen wie seiner Heimat Fichte
trage er, bis das Feuer ihn vernichte!“
Dann nahm sie Wasser, schüttete es über seine Füße und hauchte ihn an. Plötzlich verwandelte sich sein Körper in eine recht hohe Fichte. Die Hexe lachte laut auf und verschwand. Doch die Sinne des Edelmannes waren nicht ganz verschwunden, in seinem Innersten konnte er sehr wohl fühlen. Mit Schmerz dachte er an sein Daheim zurück und konnte sich nur etwas damit trösten, dass er eine Fichte und keiner von den Bäumen in der fernen Gegend geworden war.
Die Fichte wuchs aber schlecht in jenem Land, weil ihr dort das Wetter nicht gut bekam. Sie stand auf einem großen Grundstück und der Besitzer desselben war verwundert über die große Fichte, die da auf der kaum genützten Wiese stand. „Wer hat diesen Baum denn dorthin gepflanzt?“, fragte er. Doch niemand wusste es. „Fällt den Baum da!“, befahl er seinen Knechten und sie gehorchten. Aber als sie ihn fällten, verwandelte sich dabei plötzlich der Edelmann wieder in einen Menschen zurück. „Wie gibt es denn das? Wir fällen einen Baum und er wird zu einem Menschen!“, rief ein Knecht erstaunt aus. Doch der junge Edelmann bedankte sich und erzählte seine Geschichte. Er ging auf einem anderen Weg zum Schloss zurück und war heilfroh. Dann kehrte er wieder zu seinem Vater heim und blieb den Rest seines Lebens dort. Nur das Schloss seines Onkels behielt er, ohne jemals wieder dorthin zu reisen.
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