Die gefährlichen Naschereien

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal ein Junge namens Paul, der lebte mit seinen Eltern in einem Haus am Stadtrand. Eines Tages ging er allein in die Stadt und sah sich auch die engen, versteckten Gassen an. Als er durch diese ging, kam er an einem Haus vorbei, aus dem ein herrlicher Geruch von süßen Backwaren strömte. Allerdings waren nur die Fenster in den oberen Stockwerken geöffnet, vor denen im unteren Stockwerk waren Fensterläden. So konnte Paul nicht ins Haus sehen. Der Geruch war aber so verführerisch, dass er nicht anders konnte und an die Türe klopfte. Es machte jedoch niemand auf. Daher klopfte er noch einmal, aber es kam wieder keine Antwort. Enttäuscht ging er weiter, doch da sah er eine kleine Tür zwischen dem Haus und dem Nachbargebäude. Er klopfte daran, aber als niemand aufmachte, öffnete er sie. Denn er dachte sich: „Da kommt man bestimmt in den Innenhof! Ich muss es einfach versuchen!“ Da erblickte er hinter der Tür einen Durchgang und gelangte über diesen in den kleinen Innenhof, der sehr beschaulich war und in dem ein paar Kräuter wuchsen.

Dann blickte er zum Haus, aus dem der Geruch strömte, und sah wieder mehrere verschlossene Fenster, aber zwei waren geöffnet. Eines von den beiden war im untersten Stockwerk und so sah er durch dieses hinein und erblickte lauter köstliche Süßigkeiten. Da waren Lebkuchen, Krapfen, Kekse und Torten. Sie sahen so lecker aus, dass Paul gerne etwas davon genascht hätte. Das Haus hatte aber auch hier im Innenhof eine Tür, so klopfte er auch an diese. Da jedoch wieder niemand öffnete, machte er sie auf, denn sie war nicht abgeschlossen. Seine Gier hatte jede Angst in ihm verscheucht, so ging er hinein und schlich sich leise in den Raum, in dem die Süßigkeiten waren. Er erblickte leckere Lebkuchenmännchen und wollte schon in einen hineinbeißen, da hörte er Geräusche aus dem oberen Stockwerk. Er erschrak, nahm sich schnell einige Süßigkeiten und eilte mit ihnen aus dem Haus und dem Innenhof heraus.

Dann lief er schnell heim, wo er die Süßigkeiten in seinem Bett versteckte. Abends sagten ihm seine Eltern, dass sie ausgehen würden und er nun schlafen gehen solle. Als sie gegangen waren, wollte er sich über die gestohlenen Süßigkeiten hermachen, doch sie waren verschwunden. „Wie kann das sein? Es war doch niemand bei meinem Bett!“, dachte er sich. Plötzlich vernahm er ein Gerede in der Küche. Er erschrak, denn er wusste nicht, wer da sprach, da doch seine Eltern fort waren. So ging er zögernd in die Küche, konnte aber im ersten Augenblick niemanden sehen. Doch plötzlich erblickte er zwei Lebkuchenmännchen, die auf dem Tisch saßen und sich bewegten. Da erschrak er sehr und fragte: „Was ist denn hier los?“ Da antwortete eines der Lebkuchenmännchen schroff: „Was soll denn sein? Du hast uns hierhergebracht und dann wunderst du dich, dass wir uns unterhalten?“ „Ihr könnt sprechen?“, fragte Paul verschreckt. Da sagte das andere Lebkuchenmännchen böse: „Du redest doch auch, wieso sollen wir es nicht können?“ Plötzlich sprang ein Keks, es war einer, der unter dem Namen „Spitzbub“ bekannt ist, gegen Pauls Bein. „Aua“, sagte der Junge, „was war denn das?“ „Das war einer der Spitzbuben, die du gestohlen hast! Pass nur auf, dass die anderen zwei nicht auch noch frech werden!“, antwortete in einem strengen Ton das Lebkuchenmännchen, das zuerst gesprochen hatte. „Wieso seid ihr so böse?“, fragte Paul. „Wir sind nur so, wie du es verdienst!“ „Wie meinst du das?“ „Unsere Herrin, die uns gebacken hat, gibt ihre Süßigkeiten Kindern, die eine Belohnung oder Bestrafung verdient haben. Zu braven Kindern sind wir ganz lieb und schmecken für sie überaus köstlich. Bei schlimmen Kindern werden wir böse und gemein!“ Da fragte der Junge: „Wieso bin ich schlimm?“ „Das fragst du auch noch? Du hast dich doch ins Haus unserer Herrin geschlichen und uns gestohlen!“

Da sprang plötzlich ein anderer Spitzbub dem Jungen auf den Kopf und er sagte: „Au! Pass doch auf!“ „Pass du doch auf!“, erwiderte der Keks zornig. Da rief der Junge: „Ich will, dass ihr alle geht!“ Aber es begannen alle laut zu lachen und ein Lebkuchenmännchen sprach: „Darauf kannst du lange warten! Wir werden eine Weile hierbleiben!“ „Nein, werdet ihr nicht! Meine Eltern kommen bald nach Hause!“ „Sie werden aber nicht hineinkommen, denn wir haben die Türe bereits zugesperrt!“ Da wollte der Junge zur Türe rennen, doch die drei Spitzbuben sprangen auf ihn zu und ließen ihn nicht in Ruhe. Er rief: „Lasst mich doch in Frieden!“ Doch sie antworteten im Chor: „So iss uns doch!“ Auch eines der Lebkuchenmännchen sprach: „Na, dann iss sie, du hast sie ja gestohlen!“

Der Junge versuchte, sie einzufangen, aber sie hüpften derart schnell, dass er es nicht schaffte. Erst nach mehreren Versuchen erwischte er einen Spitzbuben und wollte ihn essen. Plötzlich gaben auch die anderen Spitzbuben kurz Ruhe. Doch als der Junge den Keks probiert hatte, wurde ihm übel, denn er schmeckte so scheußlich und bitter. „Iss doch weiter“, riefen alle, „du hast uns doch gestohlen!“ „Nein, ich will nicht! Er schmeckt so scheußlich!“, sagte der Junge. Doch sie alle gaben keine Ruhe und sagten: „Iss auf! Iss auf!“ Er aß ihn auf, aber ekelte sich dabei. Dann sprangen die beiden Spitzbuben wieder auf ihn zu und belästigten ihn. Da lief er in das Zimmer zurück, wo sein Bett stand, und das so schnell, dass ihm selbst die Spitzbuben nicht folgen konnten. Er verschloss die Tür und hatte Angst.

Da riefen alle Süßigkeiten: „Komm doch wieder heraus! Wir lassen dich nun in Ruhe!“ Doch er schrie: „Ich glaube euch nicht!“ Er überlegte kurz und dann fragte er: „Lasst ihr mich in Frieden, wenn ich euch verspreche, von jetzt an brav zu sein?“ „Das musst du schon beweisen!“, antworteten sie im Chor. „Was muss ich tun?“ „Einen Keks hast du Dieb schon gegessen, aber wenigstens uns könntest du doch gleich wieder zurückbringen!“, sprach ein Lebkuchenmännchen. „Was? Jetzt? Es ist doch spät!“ „Ja, jetzt sofort! Unsere Herrin vermisst uns sicherlich schon! Denk nicht an deine Eltern und bring uns zurück!“ „Das kann ich doch auch gleich morgen Früh machen! Es sind ja nur ein paar Stunden bis dahin!“, sagte Paul. „Nein! Nein! Jetzt sofort!“ Da wollte der Junge schon die Tür zur Küche aufmachen, aber dann dachte er sich, dass seine Eltern strikt dagegen wären.

Daher sagte er: „Meine Eltern würden es einfach nicht erlauben! Morgen werde ich es machen! Versprochen!“ „Versprochen?“, fragte das Lebkuchenmännchen nach. „Ja, versprochen!“ Da hörte er plötzlich, wie die Eingangstüre des Hauses knarrte und daraufhin Stille herrschte. Er fasste Mut, öffnete die Tür seines Zimmers und ging in die Küche. Doch da war niemand mehr, nur die Eingangstüre des Hauses war geöffnet. Denn die Süßigkeiten waren gegangen, weil er vollernstlich versprochen hatte, sie zurückzubringen, und weil er sich seinen Eltern nicht widersetzen wollte. So hatte er daraus gelernt und lebte von nun an ehrlich und anständig.

© Anders Baumgartner. Alle Rechte vorbehalten.