Das geheimnisvolle Schloss

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal ein Vater, der hatte eine Frau und vier Kinder. Seinen jüngsten Sohn, Samuel, mochte er aber nicht, weil es ihm stets missfiel, was er tat. Der Vater borgte sich eine große Summe Geld von einem anderen Bewohner im Dorf, der ein Großbauer war. Da er es aber nicht schaffte, das Geld zurückzuzahlen, wurde der Großbauer sehr wütend. Er ging zum Vater der vier Kinder und schrie ihn an: „Schon sechs Jahre laufe ich dem Geld hinterher. Jetzt ist Schluss! Wenn du mir das Geld nicht gibst, dann musst du es bei mir abarbeiten!“ Der Vater sagte besorgt: „Warte, bleib doch ruhig! Ich gebe dir jemanden, der meine Schulden abarbeiten kann!“ „Wen denn?“, fragte der Großbauer. „Meinen Sohn Samuel!“ „Ha! Der junge Taugenichts! Was ist mit deinem ältesten Sohn?“ Der Vater erwiderte: „Nein, bitte nimm den Samuel! Der ist zwar jung, aber sehr fleißig!“ Zögernd willigte der Großbauer ein und der Junge musste nun bei diesem viel arbeiten. Samuel verstand sich aber sehr gut mit dem Sohn des Großbauern, der Karl hieß. Dieser hasste es, wie sein eigener Vater den armen Samuel behandelte.

Als ein paar Wochen vergangen waren, sagte Karl zu ihm: „Mein Vater kann dich nicht wie einen Sklaven behandeln. Ich habe schon mehrmals mit ihm darüber gesprochen, aber er hört nicht auf mich. Daher sage ich dir: ‚Fliehe von hier!‘“ „Das kann ich nicht! Ich weiß weder wohin noch will ich meine Familie in Schwierigkeiten bringen“, erwiderte Samuel. „Die kann dir doch egal sein, die hat dich doch im Stich gelassen! Und fliehen kannst du zu meiner Großmutter mütterlicherseits, die abgelegen im Lärchenwald lebt. Mein Vater mag sie nicht und besucht sie nie, daher bist du bei ihr sicher.“ Karls Mutter war nämlich nicht mehr am Leben. Dann erklärte er Samuel den Weg dorthin. Danach umarmten sich die beiden und Samuel machte sich mit etwas Proviant auf den Weg. Er ging ein paar Stunden, dann kam er an einem gewaltigen Abgrund vorbei, der ihn sehr beeindruckte. Er wich etwas vom Weg ab und blickte in die Tiefe des Abgrunds. Da entdeckte er in der Ferne ein Schloss, worüber er sehr staunte.

Dann ging er wieder weiter und fand am späten Abend das Häuschen von Karls Großmutter, die ihn sehr freundlich aufnahm. Er aß bei ihr und er erzählte vom Schloss, das er in der Ferne gesehen hatte. „Ach, das ist ein wundersames Schloss“, sagte die alte Frau. „Warum ist es denn wundersam?“, wollte Samuel wissen. „Das soll kein gewöhnliches Schloss sein, in dem ein Adeliger lebt. Wenn man sich dem Schloss nähert, verschwindet es meist plötzlich. Entfernt man sich, erscheint es wieder. Nur jemand mit einem guten Herzen kann hineingelangen. Aber auch wenn man es hineingeschafft hat, muss man sich bewähren, um die Schatzkammer zu erreichen.“ „Eine Schatzkammer? Was muss man denn machen, um hineingelassen zu werden?“, fragte Samuel. „Du musst Tapferkeit beweisen und darfst im Schloss niemals lügen, darfst nichts zerstören und darfst nicht stehlen. Unter keinen Umständen.“ „Warst du schon einmal in diesem Schloss?“ „Nein. Als ich mich ihm näherte, ist es zwar nicht verschwunden, aber ich habe mich nicht hineingetraut. Ich brauche auch nicht viel Geld, daher war es mir egal.“

Samuel wollte in das Schloss, doch die alte Frau versuchte, ihn davon abzuhalten. Trotzdem ging er am nächsten Morgen heimlich zum Schloss. Der Weg hinunter war sehr steinig und beschwerlich. Als er vor dem prächtigen Gebäude stand, verschwand es nicht, worüber er sich sehr freute. Er klopfte an das mächtige Tor, doch es machte niemand auf. Als er es öffnen wollte, überkam ihn Angst. Aber er dachte sich: „Wenn ich zur Schatzkammer gelange, finde ich vielleicht genug Geld, damit mein Vater die Schulden zurückzahlen kann.“ Dann machte er behutsam das Tor auf und ging in das Schloss hinein. „Ist da jemand?“, fragte er ängstlich. Doch es kam keine Antwort. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte. So ging er die große Treppe hinauf, die wie der gesamte Boden voll mit Staub war. „Hier kann niemand leben“, sagte er sich ganz leise, „da ist alles verwahrlost!“ Als er in das obere Stockwerk gelangte, hörte er plötzlich eine Stimme aus einer Kammer. Er erschrak sehr und wäre am liebsten wieder hinuntergegangen. Aber er nahm seinen ganzen Mut zusammen und ging ganz langsam zur Kammer, aus der man Stimmen hörte.

Er sah, dass die Kammer geöffnet war und dass darin ein großer Mann stand, der einen anderen bedrohte. Da erblickte der große Mann auch Samuel. Er ging schnell auf ihn zu und fragte ihn zornig: „Hast du gesehen, was ich getan habe?“ Da erschrak der arme Samuel sehr und wurde ganz bleich im Gesicht. Er hätte es gern verleugnet, doch da fiel ihm ein, dass er nicht lügen durfte. Darüber hinaus wollte er den bedrohten Mann nicht im Stich lassen und antwortete daher mit leiser Stimme: „Ja, ich habe es gesehen.“ Da schrie der große Mann laut auf, verschloss die Tür der Kammer und man hörte nichts mehr von den beiden. Samuel zitterte noch immer vor Angst und begriff nicht, was geschehen war. Dann ging er weiter und sah über einem Tor stehen: „Hier geht es zur Schatzkammer.“ Er klopfte an das Tor, aber es kam wieder keine Antwort. Als er es öffnen wollte, merkte er, dass es fest verschlossen war. Da entdeckte er eine große Axt, unweit vom Tor entfernt. „Mit der könnte ich wohl das Tor aufbrechen“, dachte er sich und nahm die Axt. Doch dann fiel ihm ein, dass er nichts zerstören durfte. Enttäuscht legte er sie wieder hin. Als sie den Boden berührte, verwandelte sich die Axt plötzlich in einen Schlüssel. Er erschrak sehr darüber und wollte wieder weggehen, doch da verstand er, dass der Schlüssel das Tor öffnen könnte. Er nahm ihn und sperrte das Tor auf.

Er gelangte in eine recht dunkle Kammer, die nur zwei kleine Fenster hatte. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer Haufen Geld. Davor war aber ein Schild, auf dem stand: „Der Schatz gehört dem Tier.“ Samuel war wieder sehr verwundert darüber. „Jetzt gehört der Schatz irgendeinem Tier. Wo soll es denn sein?“, dachte er. Er blickte um sich, doch in der dunklen Kammer konnte er nicht viel sehen. Da sah er hinter dem Haufen Geld ein Tier sitzen, das einem Luchs glich. Es schlief und Samuel traute sich nicht, es zu wecken. Aber er dachte sich: „Ich will nichts stehlen. Wenn es dem Tier gehört, so muss ich es fragen.“ Als er sich langsam dem Tier näherte, wachte es auf und Samuel sprach ängstlich: „Oh, entschuldigt bitte die Störung! Ich möchte nur fragen, gehört Euch das viele Geld?“ „Ja, allerdings. Was willst du von mir?“ „Ich dachte, der Schatz gehört niemandem. Wenn er aber Euch gehört, so gehe ich nun wieder.“ „Weil du nachgefragt und nicht gestohlen hast“, sagte das Tier, „darfst du so viel mitnehmen, wie du willst.“ Da bedankte sich Samuel und nahm nur so viel mit, wie sein Vater noch dem Großbauern schuldete. Als er das Schloss verlassen hatte, löste es sich plötzlich in Luft auf.

Er ging nach Hause zu seinem Vater und gab ihm das Geld. Dieser wurde aber wütend und schrie: „Zuerst läufst du vom Großbauern weg und dann stiehlst du auch noch Geld! Wem hast du es gestohlen, du Dieb?“ „Ich habe es nicht gestohlen, Vater!“ „Belüge mich nicht! Das hat dir doch niemand geschenkt! Raus aus meinem Haus!“ „Ich war im geheimnisvollen Schloss unweit vom Abgrund des Kogels! Ich durfte mir das Geld aus der Schatzkammer nehmen!“ „Das soll ich dir glauben? Verschwinde endlich aus meinem Haus!“, brüllte der Vater. Plötzlich wurden aus all den Münzen Bucheckern. Da erschrak der Vater sehr und er wusste nun, dass sein Sohn die Wahrheit sagte. „Mein Sohn, ich hatte unrecht! Aber was ist denn nun mit dem Geld?“ „Ich weiß es nicht! Keine Ahnung, was wir nun machen sollen.“ Der Vater war verärgert, aber sagte dennoch: „Ja, ich habe dir unterstellt, gestohlen und gelogen zu haben. Dabei ist es nicht wahr! Aber jetzt habe ich nichts vom Geld!“ Plötzlich wurden aus den Bucheckern wieder Geldmünzen und der Vater freute sich. Er brachte das Geld dem Großbauern und behandelte Samuel von nun an gut.

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