Der geliehene Spiegel

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Der geliehene Spiegel

Es war einmal ein Diener, der arbeitete für eine reiche Familie. Er war stets fleißig und vertrauenswürdig. Eines Tages kam aber ein sehr geschickter Dieb unbemerkt in das Haus und stahl viel von dem Schmuck, der der reichen Hausherrin gehörte. Er konnte damit fliehen, ohne dass irgendjemand etwas bemerkte. Die Hausherrin sah aber bald, dass jede Menge Schmuck gestohlen worden war, und erschrak darüber sehr. Sie erzählte das ihrem Mann, der verwundert fragte: „Wer kann denn das gewesen sein?“ Da antwortete sie: „Das war unser Diener! Ganz bestimmt!“ Doch ihr Mann erwiderte: „Nein, das kann nicht sein! Ich vertraue ihm!“ „Nur er kann es gewesen sein! Die Köchin war bestimmt nicht im oberen Stockwerk, die ist die meiste Zeit in der Küche! Unser Diener kommt doch in jeden Raum!“ „Wir haben ihn schon ein paar Jahre. Er ist vertrauenswürdig, da bin ich mir sicher. Wieso sollte er dir Schmuck stehlen, da er doch leicht verdächtigt werden könnte?“ Doch sie gab nicht nach und der Hausherr sagte: „Dann will ich ihn befragen!“ Er rief den Diener, aber der wusste nichts vom gestohlenen Schmuck und der Hausherr glaubte ihm. Aber seine Frau sprach: „Ich vertraue ihm nicht! Es kann nur er gewesen sein! Ich will, dass er unser Haus verlässt!“ So verlor der Diener seine Arbeit und ging fort. Die Hausherrin erzählte den Leuten in der Nachbarschaft, dass der einstige Diener ein Dieb sei, und das Gerücht verbreitete sich schnell. Man vertraute ihm nicht mehr und er bekam keine Arbeit.

Als er sich eines Tages unter eine Linde setzte und dort über sein Schicksal klagen wollte, sah er eine kleine Pfütze vor sich, die noch vom Regen vom Vortag geblieben war. Darin sah er sein Spiegelbild und er sagte: „Ist das das Gesicht eines Verbrechers?“ Daraufhin schlief er unter der Linde ein. Nach einer Weile weckte ihn eine freundliche Stimme, die sagte: „Wach auf! Was schläfst du mitten am Tag?“ Da erwachte der einstige Diener plötzlich und erblickte einen alten Mann mit grauen Haaren und Spitzbart, der gut gekleidet war. Der Diener fragte ihn: „Wer seid Ihr?“ Der vornehme Mann antwortete: „Ich bin ein Spiegelhersteller! Ich glaube, du kannst einen meiner Spiegel gut gebrauchen!“ „Wieso denn das? Wozu schön sein, wenn ich keine Arbeit mehr bekomme?“ Da erwiderte der alte Mann: „Nicht so einen gewöhnlichen Spiegel will ich dir geben! Einen ganz besonderen sollst du bekommen! Folge mir!“ Der Diener ging mit ihm mit.

Nach einer Weile gelangten sie zu einem Felsen, in dem eine unscheinbare Türe war. Der alte Mann klopfte daran und sprach: „Mache uns auf!“ Da öffnete sich die Tür und die beiden gingen hinein. Dort hingen aber jede Menge Spiegel verschiedenster Art an den Wänden. Da nahm der alte Mann einen besonders schönen Spiegel, der einen roten Rahmen hatte. Er gab ihn dem Diener und sprach: „Ich leihe dir diesen Spiegel! Er ist etwas ganz Besonderes! Er ist nicht wie andere! In sieben Tagen musst du ihn mir jedoch zurückbringen!“ Der Diener nahm ihn dankbar an, fragte aber: „Was soll ich denn nun mit ihm machen können?“ Da antwortete der alte Mann: „Das musst du selbst herausfinden!“ Der Diener verließ den Felsen und warf einen Blick in den Spiegel. Doch er konnte sich darin nicht sehen, sehr wohl aber das Gebüsch, das sich hinter dem Spiegel befand. Er fragte sich: „Was ist das für ein tückischer Spiegel? Es ist, als würde man durch ihn hindurchsehen! Was soll ich mit so einem machen?“

Er ging in das Dorf und als er dort ankam, wollte er den Pfarrer um etwas zu essen bitten. Denn er war nach der langen Wanderung hungrig geworden. Als er zum Pfarrhaus ging, versteckte er den Spiegel hinter einem Baum, der im Kirchenfriedhof stand. Er dachte, dass wenn man den kostbaren Spiegel sehen würde, man ihm nichts zu essen gäbe. Als er ihn versteckt hatte, ging er zum Pfarrhaus und klopfte an die Tür. Doch da rief die zänkische Köchin des Pfarrers von einem Fenster des ersten Stocks herunter: „Was tust du hier? Geh heim! Der Pfarrer ist gerade nicht da!“ Er antwortete aber: „Ich möchte um etwas zu essen bitten! Ich habe Hunger!“ Da sagte die Köchin: „Dafür bin ich nicht zuständig! Geh fort! Ich mag es nicht, wenn fremde Leute sich hier herumtummeln! Überhaupt ist heute Freitag, da schadet dir das Fasten nicht!“ Daraufhin machte sie das Fenster zu und der Arme ging zum Baum zurück und nahm den Spiegel. Als er in diesen hineinblickte, bemerkte er, dass er damit alles im Pfarrhaus sehen konnte. Er sah, wie die Köchin sich an den Tisch setzte und einen Schweinsbraten aß. Er war sehr überrascht darüber, was der Spiegel vermochte, aber er ärgerte sich auch über die falsche Köchin. Als er den Spiegel vor die Kirche hielt, konnte er deren ganzen Innenraum sehen. Da erkannte er, dass er mit ihm alles sehen konnte, was sich in einem Gebäude befand. Er ging zu seiner Hütte am Rand des Dorfes, die recht verfallen war, aber in der er zur Not leben musste. Nachts hatte er einen Traum, in dem er mit dem Spiegel vor Häusern stehen und damit Verbrechen aufdecken würde.

Am nächsten Tag nahm er den Spiegel und wollte mit diesem in den nächsten Ort gehen, der nicht weit entfernt lag. Er stillte seinen Hunger mit ein paar Beeren, die im Gebüsch am Ortsrand herangereift waren. Dann ging er weiter und sagte sich: „Vielleicht hat in diesem Ort jemand Mitleid mit mir und gibt mir etwas zu essen! Aber noch schöner wäre es, wenn der Traum der letzten Nacht wahr werden würde!“ Als er dort ankam, hörte er die Leute reden, dass einer reichen Dame eine sehr teure Kette gestohlen worden war. Da ging ihm ein Licht auf. Er sah mit seinem Spiegel heimlich in die Häuser hinein. Als er eine alte Holzhütte am Rand des Ortes gefunden hatte, sah er mit seinem Spiegel, dass darin ein Mann und eine Frau mit zerlumpten Kleidern saßen. Die Frau hatte aber eine überaus wertvolle Kette in der Hand und freute sich sehr darüber. Da rannte er zu den Dorfbewohnern und erzählte ihnen, dass er den Dieb der wertvollen Kette gefunden habe. Der Dieb und seine Frau wurden gefangen genommen und bestraft. Die Menschen lobten den Diener sehr und die reiche Dame, die bestohlen worden war, lud ihn zu sich zum Essen ein. Leider hatte aber niemand im Dorf eine Arbeit für ihn. Am Abend ging er wieder in seine Hütte zurück. Da hatte er nachts, als er schlief, erneut einen Traum. In diesem ging er zum Haus seiner früheren Arbeitgeber und machte sie mithilfe des Spiegels lächerlich.

So ging er am nächsten Morgen in die Stadt, in der er einst gearbeitet hatte. Als er vor dem Haus stand, sah er in den Spiegel und erblickte die Hausherrin, die, obwohl es schon mitten am Tag war, im Nachthemd herumging und mit ihren drei Kindern schrie. Da stellte er den Spiegel vor das Haus und versteckte sich im Gebüsch daneben. Da gingen einige Leute vorbei und konnten durch den Spiegel sehen, was im Haus geschah. Die Leute begannen laut zu lachen und einer fragte: „Woher haben die solch einen Zauberspiegel? Und wieso stellen sie ihn hierhin, anstatt in ihr Haus?“ Der Diener musste sich das Lachen verkneifen, da er sich im Gebüsch versteckt hatte. Als die Leute gegangen waren, ging eine vornehme Frau vorbei und sah den Spiegel. Da war sie sehr verwundert und fragte sich: „Was soll denn das? Was macht der sonderbare Spiegel hier? Hat sie den aufgestellt, um sich bis auf die Knochen zu blamieren?“

Daher ging sie zum Haus und klopfte an die Tür, um die Hausherrin zu befragen. Der Diener sprang aber aus dem Gebüsch, nahm den Spiegel und lief davon. Dann begann er laut über die Hausherrin zu lachen und konnte fast gar nicht mehr damit aufhören. Da fiel ihm ein, dass er den Spiegel zurückbringen sollte. Er ging also zum alten Mann, der ihm diesen gegeben hatte. Der stand vor dem Felsen, begrüßte ihn freundlich und sprach: „Ich sehe, auf dich ist Verlass! Du hast mir den Spiegel so schnell zurückgebracht! Weil du so vertrauenswürdig bist, sollst du bei mir arbeiten und mir dabei helfen, Spiegel herzustellen!“ Da freute er sich sehr und arbeitete viele Jahre bei dem alten Mann und war glücklich.

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