Es war einmal ein junger Mann namens Leonhard, der ging auf einen Berg, weil er sein Städtchen so gern von oben sah. Nachdem er am Gipfel die Aussicht genossen hatte, ging er auf einem anderen Weg zurück in sein Haus. Da fand er plötzlich an einem Hang einen schönen Stein, der in der Sonne herrlich glänzte. Leonhard war begeistert von der Schönheit des Steins, ging zu ihm hin und sah, dass ein Stück von ihm abgebrochen zu sein schien. Aber er freute sich darüber, dass er so schön glänzte, und nahm ihn mit nach Hause. Er kannte sich ein wenig mit Steinen aus, doch so einen hatte er noch nie gesehen.
Da er wusste, dass dieser ein ganz besonderer Stein war, versteckte er ihn in einem Kasten und zeigte ihn niemandem. In den nächsten Tagen erfuhr er aber, dass Leuten an der Stelle, an der er den Stein gefunden hatte, erschreckende Dinge passiert seien. So wären urplötzlich große Steine vom Hang gefallen, als die Menschen vorbeigingen, und manche hörten eine jammernde oder zornige Stimme, ohne irgendwelche Worte zu verstehen. Leonhard erschrak über die Berichte und fragte sich, was die Ursache für diese Geschehnisse sein könnte. Er hatte schließlich auch den sonderbaren Stein dort gefunden. So nahm er seinen ganzen Mut zusammen und ging zum besagten Hang. Er näherte sich ihm vorsichtig und plötzlich rasten einige Steine hinunter, denen er noch knapp ausweichen konnte. Da rief er erschrocken: „Ist da jemand?“ Plötzlich antwortete eine Stimme, er konnte sie aber nicht verstehen. Als weitere Steine hinunterstürzten, lief er schnell nach Hause. Dort grübelte er, wieso es am Hang spukte.
Es vergingen ein paar Tage, da traf er einen älteren Mann im Nachbarort, dem er von den sonderbaren Geschehnissen am Hang erzählte. Der war sehr verwundert und sprach: „Dort war erst kürzlich mein Sohn, der im selben Alter ist wie du, aber da war alles ruhig. Allerdings hat er mir gesagt, dass er dort etwas Besonderes gefunden hatte.“ Da fragte Leonhard: „Was hat er denn gefunden?“ „Einen glänzenden Stein. Sehr schön. Habe ich noch nie gesehen!“ Da sagte Leonhard: „Ein glänzender Stein? Ich habe auch so einen gefunden! Es bleibt nur zu hoffen, dass das, was da oben passiert, nichts mit diesen glänzenden Steinen zu tun hat.“ Da wurde der Mann stutzig und erzählte das seinem Sohn. Dieser holte seinen Stein, ging mit ihm zu Leonhard und fragte ihn: „Hier ist meiner, sieht deiner auch so aus?“ Da antwortete Leonhard: „Ja, allerdings. Es scheint, als ob auch von deinem Stein ein Stück abgebrochen ist!“ „Ja, das kann sein. Das passiert bei Steinen ja oft!“ „Vielleicht waren unsere beiden einmal ein ganzer Stein. Ich kann mir vorstellen, dass die abgebrochenen Stellen zusammenpassen könnten.“ Als Leonhard das gesagt hatte, fiel dem anderen Mann plötzlich der Stein aus der Hand, der daraufhin sagte: „Eigenartig! Er wurde auf einmal so unglaublich schwer, dass ich ihn nicht mehr halten konnte!“ Er hob ihn jedoch wieder mühelos auf und sagte: „Jetzt bin ich wirklich neugierig! Ich will auch deinen Stein sehen!“
So gingen die beiden zu Leonhards Haus. Als sie dort angekommen waren, nahm Leonhard den Stein aus dem Kasten heraus und sagte: „Jetzt will ich sehen, ob unsere Stücke zusammenpassen!“ Als die beiden Teile miteinander in Berührung kamen, vereinigten sie sich und wurden zu einem ganzen Stein. Da waren die Männer sehr überrascht. Dann sagte Leonhard: „Ich hab es mir ja gedacht, dass die beiden zusammengehören! Ich will den Stein aber nicht mehr im Haus haben, denn jetzt ist er mir doch ein wenig unheimlich. Vielleicht sollte ich ihn zum Hang zurückbringen!“ Da sprach der andere: „Lass mich mitkommen! Ich will sehen, was da oben los ist!“ Leonhard willigte ein und die beiden gingen zum Hang hinauf. Dort rollten aber wieder Steine hinunter und die zwei Männer mussten ihnen ausweichen. Als dann noch ein weiterer großer Stein auf sie zukam, streifte er den Mann vom Nachbarort, der daraufhin stürzte. Doch Leonhard half ihm schnell wieder auf. Da hörten sie plötzlich die Stimme etwas rufen, aber Leonhard verstand nichts. Doch der andere Mann sagte, dass er so etwas hörte wie: „Der Stein! Der Stein!“ Leonhard nahm den glänzenden Stein aus der Tasche und legte ihn zum Hang.
Plötzlich erschien eine Nebelwolke und hüllte die ganze Umgebung ein. Die beiden wollten weglaufen, doch sie konnten nichts sehen. Sie fürchteten sich sehr und wussten nicht, was sie tun sollten. Es schien, als ob der Nebel immer dichter und dichter werden würde. Aber auf einmal lichtete er sich und löste sich langsam auf. Da hörten die Männer die Stimme sprechen: „Zusammen gehörten doch stets die zwei, sie wieder zu nehmen komme keiner herbei!“ Dann war der Nebel verschwunden. Der Mann vom Nachbarort sagte zu Leonhard: „Komm, lass uns gehen!“ Doch der deutete mit dem Finger auf die Stelle, wo er den Stein hingelegt hatte, und sprach: „Da! Jetzt ist der glänzende Stein weg! Anscheinend hat ihn sich jemand genommen! Wenn jetzt nur Ruhe wäre!“ Sie standen kurze Zeit wortlos da und wollten sehen, ob es noch immer spukte. Es schien nun aber ruhig zu bleiben und Leonhard sagte: „Ich glaube, jetzt brauchen wir hier keine Angst mehr zu haben! Da war wohl irgendein Wesen wütend, weil wir die glänzenden Steine genommen haben!“ Da freuten sie sich und gingen weg. Von nun an konnten die Menschen wieder ohne Angst an dem Hang vorbeigehen.
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