Die Goldmünze

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal ein Mann namens Lukas, der ging im Wald spazieren. Da stürzte er plötzlich in eine Grube. Er bekam große Angst und schrie um Hilfe, aber es war niemand da. Nach einer Weile setzte er sich bekümmert auf den Boden. Da entdeckte er eine kleine Tür, die er öffnete. Weil sie so niedrig war, musste er sich ducken, damit er durch sie gehen konnte. Hinter der Türe befand sich aber ein Raum, der voll mit Käfigen war, in denen Tiere saßen. Eines gefiel ihm ganz besonders gut und er ging daher zu dessen Käfig. Es war ein Bär, der so ein schönes Fell hatte, dass Lukas ganz erstaunt war. Da begann das Tier zu sprechen und fragte: „Was machst du denn hier?“ „Ich bin in die Grube gefallen und habe daher diese Türe gefunden“, antwortete Lukas. „So, also hat er vergessen, die Grube zu schließen?“, murmelte der Bär. „Von wem sprichst du?“ „Von unserem bösen Herrn. Das ist ein Hexer. Er hält uns als Nutztiere, denn durch seinen Zauber sind wir viel schöner und kräftiger als andere Tiere. Darum habe ich so ein besonders schönes Fell; das liebt er sehr.“

„Warum sind die anderen hier?“, wollte Lukas wissen. „Die Schafe wegen der Milch und der Wolle, die Hühner wegen der Eier und die anderen Vögel wegen ihrer prächtigen Federn. Willst du uns denn nicht erlösen?“ „Kann ich das denn?“ „Ja sicher. Ich sage dir, was du tun musst. Auch du wirst hier dann hinausgelangen. Gehe durch dieses Spitztor da hinten, da kommst du in einen langen Gang. An dessen Ende führen dann ein Gang nach links und ein anderer nach rechts. Du musst nach rechts gehen, denn dann kommst du an ein goldenes Tor. Wenn du dieses öffnest, bist du frei. Und wenn es zu beben beginnt, weißt du, dass wir erlöst sind. Gehe aber nicht durch den linken Gang, der führt zum Schatz des Hexers.“ Lukas bedankte sich und öffnete das Spitztor. Dann ging er durch den langen Gang und als er an dessen Ende gelangt war, dachte er sich: „Ich könnte mir doch etwas vom Schatz des Hexers nehmen und dann zurückgehen.“ Gesagt, getan. Er ging durch den linken Gang und fand alsbald eine Türe, die er öffnete und hinter der sich ein Haufen von Goldmünzen befand. Er freute sich sehr darüber, nahm mehr als dreißig Münzen und ging damit zum goldenen Tor. Als er dann durch dieses hinausging, war er sehr froh. Allerdings spürte er kein Beben. Er war verwundert, ging aber nach Hause. Nachts hatte er einen Traum, in dem er den Bären sah, der ein trauriges Gesicht machte und sprach: „Du hast ans Geld gedacht, warst habgierig und hast nur dich selbst befreit. Ich habe dir doch gesagt, dass du den linken Gang nicht betreten sollst. Du hast dich von der Gier nach Gold treiben lassen, jetzt sind wir noch immer gefangen.“

Da wachte Lukas erschrocken auf und hatte ein sehr schlechtes Gewissen. Er wurde zornig auf das Geld, das ihn gierig gemacht hatte, und warf es gegen die Wand. Dabei fiel eine Goldmünze durch das halb geöffnete Fenster. Er legte sich wieder schlafen, aber es fiel ihm schwer. Erst nach drei Stunden schlief er ein und träumte dann wieder vom Bären. Der sprach: „Wenn du es bereust und uns erlösen willst, dann musst du durch das goldene Tor wieder in das Reich des Hexers, aber mit allen Goldmünzen, die du dort gesammelt hast. Dann musst du sie zum Schatz legen und wieder das Reich verlassen. Das goldene Tor ist aber von außen unsichtbar. Daher musst du sagen:

‚Edles Tor aus Gold,
sei doch so hold,
öffne dich mir,
so ist es gut hier.‘

Dann siehst du es für einen kurzen Augenblick und musst es schnell öffnen.“ Lukas erwachte und ging mit dem Geld sofort los. Er wusste noch, wo das goldene Tor gestanden hatte, und sagte den Spruch:

„Edles Tor aus Gold,
sei doch so hold,
öffne dich mir,
so ist es gut hier.“

Dann zeigte es sich und er betrat das Reich. Er legte das Geld zum Schatz zurück und verließ das Reich wieder. Es bebte aber auch diesmal nicht und Lukas war verwundert und rätselte. In der Nacht träumte er wieder vom Bären, der sagte: „Du hast nicht das ganze Gold zurückgebracht. Darum sind wir noch immer nicht erlöst. Eine Goldmünze hat dir eine Elster gestohlen, die ihr Nest auf der großen Eiche vor dem Waldrand hat.“ Lukas wachte auf und war ganz überrascht, denn er hatte gedacht, alle Goldmünzen zurückgebracht zu haben. Also ging er zur großen Eiche am Waldesrand, die den meisten im Ort wohlbekannt war. Da sah er die Elster bei ihrem Nest im Baum sitzen. Da rief er hinauf: „He! Bist du die Elster, die mir eine Goldmünze gestohlen hat?“ Sie blickte verdutzt hinunter und rief: „Ich habe mir eine Goldmünze genommen, aber sie kann nicht dir gehört haben. Ich habe sofort gemerkt, dass sie einer Zauberin oder einem Hexer gehören musste.“ „Du hast sie mir gestohlen.“ „Und du musst sie ja auch gestohlen haben“, erwiderte die Elster schnell. Da senkte Lukas beschämt seinen Kopf und dachte sich: „Ich habe ja auch einfach genommen, ohne zu fragen. Das gehört sich nicht, auch wenn der Hexer böse war. Ich kann nicht jemandem eine Tat vorwerfen, die ich auch getan habe.“ „Ja, willst du jetzt wissen, wem ich die Goldmünze gegeben habe?“, fragte die Elster. „Wem hast du sie denn gegeben?“, wollte Lukas wissen. „Dem König des Waldes. Er kann Sachen, die Zauberern und Hexen gehören, in gute Dinge verwandeln. Daher habe ich ihm die Goldmünze gegeben.“ „Ach nein! Ich brauche die Goldmünze!“ „Ha! Du bist gieriger als ich! Selbst ich habe etwas von meinen Schätzen abgegeben, du Mensch kannst es nicht!“ „Es geht mir nicht ums Geld! Ich muss jemanden erlösen“, sagte Lukas seufzend. „Jemanden erlösen? Keine Ahnung, was du vorhast, aber du müsstest dich beeilen, wenn du zum König des Waldes willst! Er lebt mitten im Wald, dort, wo er am dunkelsten ist!“ Lukas bedankte sich und eilte in die Tiefe des Waldes.

Der Weg war aber sehr holprig und er stolperte oft über Wurzeln. Als der Wald immer finsterer wurde, stürzte er über eine besonders große Wurzel und fiel zu Boden. Da sah er drei sonderbare Pilze vor seinem Gesicht, die eine tintenartige Flüssigkeit auf ihn sprühten. Er wurde dadurch winzig klein. Eine große Angst überfiel ihn und er wusste nicht, was er tun sollte. Da fiel ihm ein, dass der König des Waldes ihn zurückverwandeln könnte. Er ging immer weiter in den tiefen Wald hinein, obwohl es wegen seiner geringen Größe sehr mühsam war. Hohe Baumwurzeln waren nun für ihn wie Berge, Kräuter wie Bäumchen. Als es stockfinster im tiefen Wald war, überkam ihn wieder die Angst. Da wehte plötzlich ein starker Wind, der ihn umwarf. Eine laute Stimme sprach: „Was suchst du hier, Eindringling?“ Da sprach Lukas sehr verängstigt: „Ich suche den König des Waldes! Bitte tu mir nichts!“ „Ich bin der König des Waldes! Was willst du von mir?“ Lukas richtete sich auf, kniete sich hin und sprach ängstlich: „Verzeiht, Eure Hoheit! Eine Elster soll Euch eine Goldmünze, die einem Hexer gehörte, gegeben haben. Ich brauche sie aber. Und ich wurde von drei Pilzen geschrumpft! Bitte helft mir!“ „Was die Pilze angeht, die sind meine Diener. Sie schrumpfen mir ungebetene Gäste! Aber was willst du mit der Goldmünze? Bist du Mensch so habgierig?“ „Nein, ich muss jemanden damit erlösen!“ „Zu spät! Ich habe aus ihr ein Nest gemacht und das will und kann ich nicht mehr rückgängig machen.“ Lukas war bestürzt und klagte: „Ach, ich habe einem Bären im Käfig versprochen, dass ich ihn und die anderen Tiere erlöse, die von einem Hexer gefangen gehalten werden.“ „Ich weiß, von welchem Hexer du sprichst. Du warst gierig und hast etwas vom Schatz genommen!“ „Ja, aber ich bereue es. Die Elster hat mir eine Goldmünze gestohlen, die anderen habe ich zurückgegeben. Aber Ihr seid mächtig, könnt Ihr nicht den Hexer besiegen?“

Da wehte wieder ein starker Wind und der König sprach: „Wenn ich das nur könnte, hätte ich das längst gemacht. Aber ich darf nicht mit meiner Zaubermacht gegen ihn kämpfen, sonst würde ich sie verlieren. Du hättest es schaffen können, aber du bist gescheitert. Du müsstest dir eine Goldmünze beschaffen, die einem anderen Zauberer gehört und diese dann zum Schatz legen. Denn eine gewöhnliche Goldmünze würde nichts bringen.“ „Wo soll ich so eine herbekommen?“, fragte Lukas entmutigt. „Ein paar Stunden entfernt, am Rand des Tannenwaldes neben dem Kaltenbach lebt ein reicher Herr, der besitzt einige Goldmünzen von einem Hexer. Aber der wird dir nicht so leicht etwas abgeben. Allerdings kann nur er dir helfen. Jetzt mache ich dich aber wieder groß, weil du bereust und Gutes tun willst!“ Da wehte erneut ein starker Wind und Lukas wurde augenblicklich groß. Dann sagte der König des Waldes: „Ich gebe dir ein Geschenk mit, das dir helfen wird: eine Nachtigall. Wenn du sie singen lässt, wird der, dem du etwas befohlen hast, die Arbeit besonders flink und sorgsam ausführen.“ Die Nachtigall kam herbeigeflogen und setzte sich auf die Schulter von Lukas. Er bedankte sich beim König und ging zu dem reichen Herrn. Als es abends dämmerte, kam er bei dessen Haus an und klopfte an die Tür. Die Nachtigall flog aber in einen Baum, der vor dem Haus stand. Der reiche Herr öffnete mürrisch und wollte wissen, was Lukas suche. Dieser bat um Einlass und erzählte dann, weswegen er gekommen war. Der reiche Herr sagte entsetzt: „Wie? Du willst mir solch eine kostbare Goldmünze abspenstig machen? Und du glaubst, du kannst dafür einige Wochen arbeiten, um sie zu erhalten? Nun, ich will dir einen Arbeitsauftrag geben. Wenn du ihn erledigst, kannst du so eine sonderbare Goldmünze haben. Morgen werde ich dir sagen, was du tun sollst.“ Lukas übernachtete im Haus des reichen Herrn und am nächsten Morgen führte dieser ihn auf eine riesige Wiese. Der reiche Herr sprach: „Lass meine Kühe die Wiese grasen. Es muss alles bis zum Sonnenuntergang abgefressen worden sein, sonst bekommst du die Goldmünze nicht.“

Dann ging der reiche Herr und Lukas dachte sich: „Wie soll das geschehen, es sind nur zehn Kühe da und die Wiese ist riesig! Was soll ich denn machen, dass die Kühe derart schnell und viel fressen?“ Da flog die Nachtigall herbei und setzte sich auf seine Schulter. Da fiel ihm ein Stein vom Herzen und er sagte zu den Kühen: „Grast die ganze Wiese!“ Dann sprach er zur Nachtigall: „Singe, mein Vöglein!“ Da begann sie zu singen und die Kühe fraßen so schnell, dass Lukas es kaum glauben konnte. Eine Stunde vor Sonnenuntergang waren die Kühe fertig und Lukas meldete das dem reichen Mann. Der konnte es nicht glauben und sah sich die Wiese an. Da sagte er ganz überrascht zu Lukas: „Es ist unglaublich. Du hast es tatsächlich geschafft. Und die Kühe konnten tatsächlich derart viel an einem Tag fressen! Ich weiß nicht, ob du ein Zauberer bist, aber versprochen ist versprochen. Du sollst die Goldmünze bekommen.“ Lukas freute sich und ging am nächsten Tag mit der Goldmünze zum Reich des Hexers. Die Nachtigall blieb aber auf der Schulter von Lukas sitzen. Er sagte:

„Edles Tor aus Gold,
sei doch so hold,
öffne dich mir,
so ist es gut hier.“

Da erschien das goldene Tor und er ging in das unterirdische Reich. Er legte die Goldmünze zum Schatz, doch da erschien plötzlich der böse Hexer, der zornig brüllte: „Du Dieb! Jetzt habe ich dich! Ich war verreist und du stiehlst mir etwas von meinem Schatz? Das wirst du mir büßen! Ich werde dich verzaubern!“ Da rief Lukas erschrocken: „Nein, verzaubere mich nicht!“ Da sprach die Nachtigall: „Lass mich singen, dann muss der Hexer deiner Anweisung gehorchen, nicht zu zaubern. Aber du musst schnell das Reich verlassen, denn ich kann ihn nicht besiegen und mein Gesang hilft nur ganz kurz!“ Da sagte Lukas: „Sing!“ Die Nachtigall begann zu singen und der Hexer konnte seine Hände nicht bewegen, um zu zaubern. Lukas rannte zum goldenen Tor, so schnell er nur konnte, die Nachtigall sang aber vor dem Hexer. Lukas verließ das Reich gerade noch in dem Moment, als der Hexer noch nicht zaubern konnte. Es bebte und er wusste dadurch, dass er die gefangenen Tiere erlöst hatte. Dann erschien die Nachtigall und flog zum König des Waldes zurück. Lukas rief ihr ein Dankeschön zu und ging nach Hause. Der Hexer verlor aber seine Macht, weil es einem Menschen gelungen war, die Tiere zu erlösen.

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