Der Greifvogel Scharfkralle

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal ein König, der hatte eine Frau, die er sehr liebte. Doch ihr sehnlicher Kinderwunsch erfüllte sich nicht, da die Königin nicht schwanger wurde. Erst als sie im vorgerückten Alter war, gebar sie einen Sohn, worüber sich alle wunderten. Bald darauf starb die Königin aber. Dies betrübte den König sehr und er sorgte sich umso mehr um seinen Sohn. Er heiratete aber bald wieder eine Frau und nach einer Weile merkte er, dass sie herzlos und eitel war. Der König war jedoch recht alt und wurde schwach und krank. So rief er seinen treuesten Diener zu sich und sagte zu ihm: „Meine Zeit auf dieser Welt wird bald ablaufen. Ich bin alt und lebenssatt. Doch mein Herz wird von Kummer geplagt wegen meines geliebten Sohnes. Wie du weißt, vertraue ich meiner Frau nicht. Versprich mir, auf meinen Sohn aufzupassen und ihn jederzeit zu beschützen.“ Der Diener versprach es ihm und der König war beruhigt. Bald darauf starb der Herrscher und alle in der Burg trauerten, nur die Königin nicht. Sie riss die Macht an sich und wollte nicht, dass ihr Stiefsohn eines Tages König werden könnte. Da sie aber der schwarzen Magie mächtig war, wollte sie ihm etwas Böses zuleide tun. Doch der Diener des Königs belauschte sie stets, als sie in ihrer Kammer war.

Da erfuhr er von ihrem Vorhaben und er war voller Sorge um den Prinzen. Die Königin hatte vor, ihren Stiefsohn von einem gewaltigen Greifvogel ergreifen zu lassen. Sie sprach: „Denn wenn der mächtige Greifvogel Scharfkralle den Jüngling packen wird, wird niemand mich dafür verantwortlich machen.“ Der Diener erschrak sehr und rannte in die Bibliothek der Burg, um etwas über den Greifvogel zu erfahren, denn ihm war der Name bekannt. Als er etwas über ihn in einem Buch gefunden hatte, las er, dass es nur ein Abwehrmittel gäbe. Er müsse eine Brühe aus Wasser, Eiern, bestimmten Kräutern und einem besonderen Trank herstellen. Diesen Trank besaß aber nur die Königin und das wusste der Diener. Als sie ihre Kammer verließ, um den Greifvogel von einem Turm in der Burg aus herbeizurufen, ging er schnell in ihre Kammer. Denn sie hatte aus Unachtsamkeit nicht abgeschlossen. Er nahm den Trank, der unverwechselbar schwarzrot war, und schüttete einen Teil davon in seinen Topf. Dann wärmte er in diesem schnell alle Zutaten auf und als er dies getan hatte, weckte er den Prinzen. Dieser machte überrascht auf und fragte, was denn los sei. Da flog schon der bösartige Vogel daher und war nicht mehr weit vom Fenster des Prinzen entfernt. Der Diener rannte in die Kammer des Jungen und hielt die Brühe dem Raubtier entgegen. Dieses hatte aber eine derart feine Nase, dass es den Geruch der Brühe nicht ertragen konnte. Die Königin sah, dass etwas nicht stimmte, und befahl dem Vogel noch einmal, den Prinzen zu packen. Doch das Tier konnte sich nicht überwinden. Weil es durch den Zauber gezwungen war und die Brühe es vom Befehl aufhielt, wurde das Tier durch das Hin und Her zerrissen und wurde ein zahmes Singvögelchen, das davonflog. Da ärgerte sich die Königin sehr und ging wutentbrannt in ihre Kammer zurück. Als sie dort war, sah sie, dass jemand etwas von dem kostbaren schwarzroten Trank genommen hatte. Sie geriet so in Wut, dass sie sich nicht zu fassen wusste. Dann besann sie sich und sprach, das Glas mit dem Trank in der Hand haltend:

„Wer hat denn mein Gefäß angefasst?
Wer hat sich das denn angemaßt?“

Da erschien ein Bild im Trank, auf dem sie den Diener erkennen konnte. Zornig fragte sie: „Was hat dieser Tölpel hier gemacht? Oder ist er etwa schuld, dass sich der Greifvogel in ein Singvögelchen verwandelt hat?“ Dann sagte sie sich: „Er muss mehr wissen, als ich denke. Daher muss ich sie beide aus dem Weg schaffen.“ Sie war aber sehr tückisch, stellte sich vor die Kammer des Prinzen, sagte leise einen Zauberspruch und gab dem Prinzen einen Gedanken ein, als er tief und fest schlief. Dem Diener konnte sie keinen Gedanken eingeben, da dieser nicht schlafen konnte. Am nächsten Morgen sagte der Prinz zum guten Diener: „Lass uns heute in den Wald fahren. Ich würde mich dort so gern ausruhen.“ Der Diener erwiderte: „Was? Wieso wollt Ihr denn in den Wald? Ihr könnt Euch doch auch im Burggarten erholen.“ Doch der Prinz wollte nicht nachgeben. Dann sprach der Diener: „Ihr seid hartnäckig wie nie. Auch Eure Stiefmutter würde es bestimmt nicht erlauben!“ „Dann lass sie mich fragen. Du wirst sehen, dass sie es erlaubt!“ Der Prinz fragte die Königin und sie antwortete außergewöhnlich freundlich: „Natürlich könnt Ihr in den Wald, um Euch an der frischen Luft zu erfreuen! Aber Euer Diener muss mitkommen!“ Da waren der Prinz und der Diener sehr überrascht. Letzterer dachte sich: „Will sie, dass ihm dort etwas geschieht?“ Da der Prinz nicht nachgab und auf den Diener unaufhörlich einredete, willigte dieser zögerlich und missmutig ein. Die beiden fuhren mit der Kutsche in den Wald.

An einer besonders finsteren Stelle rief der verzauberte Prinz: „Halt! Kutscher, bleibt hier stehen!“ Zum Diener sagte er: „Komm, lass uns beide tiefer in den Wald hineingehen!“ Der war aber überhaupt nicht begeistert davon und sprach: „Ach, an dieser dunklen Stelle sollen wir aussteigen?“ „Es ist doch schön hier!“ „Schön ist es wohl, aber die wilden Tiere sind gefährlich.“ „Hier gibt es keine! Komm mit!“ Da folgte der Diener ihm zögernd. Nach einer Weile sah er in einem Baum das Singvögelchen, das der böse Greifvogel gewesen war. Der Diener konnte es singen hören:

„Verstehst du denn nicht?
Ich sag es dir ins Gesicht.
Der Prinz ist nun verzaubert,
damit er nicht mehr zaudert!
Die Königin hat das gemacht,
hast du daran nicht gedacht?
Fort mit euch beiden von hier,
sonst zerreißt euch das Getier!“

Da ging dem Diener ein Licht auf und er sagte zum Prinzen: „Habt Ihr das Vöglein nicht gehört? Wir müssen zur Kutsche zurück.“ Doch da der Prinz nicht hören wollte, nahm ihn der Diener am Arm. Das gefiel dem Jüngling gar nicht und er befahl: „Lass mich sofort los! Was fällt dir ein, Diener?“ Plötzlich erschienen da mehrere wilde Tiere, darunter Wölfe, Bären und Wildschweine. Der Diener erschrak heftig, doch der Prinz wollte weiter in die Richtung gehen, aus der die Tiere kamen. Da sang das Vögelchen laut und kräftig; die wilden Tiere blieben dadurch stehen. Der Diener zog den Prinzen mit sich, obwohl sich dieser sträubte. Das Vögelchen sang aber unaufhörlich weiter, bis die Tiere sich verzogen. Plötzlich schwand die Macht der Königin. Denn sie hatte die wilden Tiere zu der Stelle hingeschickt und da diese nun aufgrund des Vögelchens nicht mehr gehorchten, war die Königin besiegt. Der Prinz war dadurch auch wieder entzaubert und sagte: „Mir gefällt es sehr gut im Wald, aber wir sind den wilden Tieren schutzlos ausgeliefert. Wollen wir nicht von dieser finsteren Stelle weg?“ Der Diener freute sich und ging mit ihm zur Kutsche.

Die Königin war aber außer sich vor Wut. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. „Was ist, wenn die beiden wissen, dass ich den Prinzen verzaubert habe? Wenn ich nun keine Macht mehr habe, was werden sie dann tun?“ Da kam das Vögelchen in die Burg und sagte den Hofleuten:

„Glaubt nicht der Königin,
denn sie war eine Zauberin!“

Die Hofleute waren überrascht und trauten dem Vogel nicht ganz. Als dann der Diener und der Prinz in der Burg ankamen, befahlen sie, die Königin gefangen nehmen zu lassen. Diese wollte entfliehen, doch sie wurde noch gerade rechtzeitig erwischt. Der Prinz war dem Diener aber sein Leben lang dankbar und wurde wenige Jahre später König.

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