Der Haarreif der Prinzessin

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal ein König, der liebte es zu jagen. Eines Tages erlegte er ein besonders großes Wildschwein. Da kam plötzlich wie aus dem Nichts eine hässliche, steinalte Frau daher. Mit einem finsteren Blick schrie sie zornig: „Du hast mein Wildschwein erlegt. Wie konntest du nur wagen, König?“ Da antwortete der König: „Das ist alles in meinem Land. Auch du bist mir untertan.“ Da wurde die Hexe fuchsteufelswild, fluchte und brüllte: „Bei all meiner Zauberkraft! Ich schwöre dir Rache! Ich könnte dich in einem Augenblick verzaubern. Aber nein! Deine einzige Tochter, das kleine Kind, die werde ich verhexen, wenn ich sie zu Gesicht bekomme!“ Doch da erschrak der König heftig, denn er liebte seine Tochter über alles. Er ritt sogleich auf seinem Pferd aus dem Wald und ließ von nun an die Prinzessin nicht mehr aus der Burg heraus.

Die Jahre vergingen und die Prinzessin wuchs heran. Kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag fragte der König sie: „In ein oder zwei Jahren wirst du verlobt sein, also hast du nicht mehr viele Geburtstage als ledige Frau. Daher möchte ich dir gleich drei Wünsche an deinem nächsten Geburtstag erfüllen. Sag mir, was du möchtest, mein Täubchen.“ Da überlegte sie ein Weilchen und nach einigen Minuten Bedenkzeit antwortete sie: „Vater, lasst doch von mir ein Porträt anfertigen. Dann hätte ich gerne einen Haarreif. Über den dritten Wunsch muss ich noch nachdenken.“ Dann sprach ihr Vater: „So sei es.“ Bald kam ein Maler in die Burg, um von der Prinzessin ein Bild zu malen. Es war aber mitten im Frühling und die Prinzessin wurde müde vom langen Posieren. Da sprach sie: „Ach, lieber Meister! Beeile dich, ich möchte in den Burggarten zu den Blumen und den blühenden Bäumen gehen!“ Der Maler antwortete bescheiden: „Wir haben es gleich, Prinzessin! Aber bringt Euch Euer Vater nicht hinaus auf die Wiesen? Da blüht viel mehr als in dem Burggarten.“ „Was blüht denn da?“, fragte die Prinzessin neugierig. „Schlüsselblumen, Krokusse, Leberblümchen und vieles mehr. Die Apfelbäume und Birnbäume sind ganz in Weiß und erfreuen das Auge.“

Da wurde sie ganz wehmütig. Aber als ihr Geburtstag gekommen war, wusste sie noch immer nicht, was ihr dritter Wunsch sein sollte. Da erinnerte sie sich an das Gespräch mit dem Maler, ging zu ihrem Vater und sagte: „Ich weiß jetzt den dritten Wunsch.“ Dann sprach der König: „Na, dann sag ihn mir.“ „Ich möchte heute mit der Kutsche eine Spazierfahrt machen, ein Stück von der Burg entfernt“, antwortete sie schnell. Da stutzte der König und schwieg kurz. Dann sagte er: „Mein Kind, gerade diesen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen.“ „Warum denn nicht, Vater?“ „Weil das zu gefährlich für dich ist. Wünsch dir was anderes.“ „Wieso darf ich die Burg nicht verlassen? Wieso ist das gefährlich?“ „Es ist einfach so. Lassen wir das jetzt. Du bekommst dein Bild und den Haarreif.“ Dann zeigte er ihr das Porträt und gab ihr den schönsten Haarreif, den sie je gesehen hatte. Sie tröstete sich etwas damit.

Aber bald wurde sie wieder wehmütig und wollte unbedingt die blühende Landschaft sehen. Daher schlich sie sich am nächsten Morgen mit hässlichen Kleidern getarnt aus der Burg heraus, was ihr recht schwerfiel, aber dennoch gelang. Sie hatte nur den Haarreif mitgenommen, den sie versteckt hielt. Als sie dann außerhalb der Burg war, ging sie zu den blühenden Wiesen und genoss die Luft. Da der König in der Burg die Abwesenheit seiner Tochter bald bemerkte, ließ er sie suchen. Sie wusste, dass er sie sofort zurückholen wollte, und eilte zum nahen Waldrand. Da begegnete sie der alten Hexe, die dem König einst gedroht hatte. Diese sprach schadenfroh: „Ja, was macht denn die Prinzessin hier bei mir am Rand meines Waldes? Was auch immer der Grund sein mag, für mich ist es ein seltenes Glück.“ Dann nahm die Alte ein großes Tuch aus ihrer Tasche, legte es auf ihr Gesicht, nahm es wieder herunter und legte es dann auf das Gesicht der Prinzessin. Diese wollte es herunterreißen, konnte es jedoch nicht. Die Hexe nahm es aber wieder vom Gesicht der Prinzessin herunter und sprach laut: „Es geschehe!“ Da bekam die Hexe plötzlich das Aussehen der jungen Prinzessin und diese das der alten Hexe. Da erschrak die Prinzessin sehr und schrie: „Was hast du gemacht? Warum siehst du so aus wie ich und warum habe ich so alte Hände und einen Buckel?“ Die Hexe lachte und antwortete: „Weil ich uns verzaubert habe. Ich muss jetzt aber gehen. Leb wohl.“ Dann ging die Hexe weg, doch die Prinzessin folgte ihr und verlangte von ihr, sie wieder zurückzuverwandeln. Doch die Hexe drohte, sie in eine Kröte zu verzaubern, wenn sie nicht still sei, und ging zur Burg.

Die Prinzessin war sehr verzweifelt und weinte bittere Tränen. Mit ihrer Gestalt konnte sie nicht in die Stadt und dachte, sie müsse draußen schlafen. Bald kam ein Junge daher und sie verhüllte ihr Gesicht. Sie fragte ihn freundlich: „Ich habe keine Unterkunft. Weißt du, wo ich schlafen kann?“ Da antwortete der Junge: „Bei meiner Familie ist kein Platz. Aber wieso gehst du nicht zu dem Häuschen da oben auf dem Hügel? Das steht zurzeit leer. Nur im Sommer kommt der alte Mann, dem es gehört.“ Sie bedankte sich, ging auf den Hügel und betrat das Häuschen, das nicht abgeschlossen war. Drinnen gab es einen großen Vorrat an Essen, durch den sie keinen Hunger zu leiden hatte. Nach ein paar Wochen kam der alte Mann, dem das Häuschen auf dem Hügel gehörte, um der Sommerhitze zu entfliehen. Er erschrak, als er die Prinzessin erblickte, die wie eine Hexe aussah. Sie sprach: „Entschuldige, dass ich in deinem Haus bin! Aber ich leide große Not! Ich bin von einer bösen Hexe in diese Gestalt verwandelt worden!“ Der alte Mann hatte einen schneeweißen Bart und hielt einen langen Stab in der Hand. Er ging auf sie zu und richtete seinen Stab auf ihr Gesicht. Dann sprach er: „Wahrlich, du bist keine Hexe! Mein Stab zeigt es an!“ Sie erzählte ihm die ganze Geschichte und er erschrak. Er sagte: „Mein Stab hat leider nur wenig Macht! Aber zu der Zeit im Jahr, in der du verzaubert worden bist, kann er dich bei Vollmond sicher zurückverwandeln.“ „Das war doch im Frühjahr! Da ist noch lange zu warten!“ „Mein Kind, früher geht es nicht. Du musst Geduld haben.“ Die Prinzessin blieb bis zum nächsten Frühling im Häuschen.

Der alte Mann war aber vom Herbst bis in das zeitige Frühjahr in einem Haus, das ein paar Tage entfernt lag. Die Prinzessin war in dieser Zeit allein im Häuschen auf dem Hügel. Mitten im Frühling kam er früher als sonst dorthin, da er die Prinzessin zurückverwandeln musste. Während einer Vollmondnacht richtete er seinen Stab auf die Prinzessin und plötzlich erhielt sie ihre schöne Gestalt wieder. Sie freute sich sehr und bedankte sich überschwänglich bei dem alten Mann. Am nächsten Tag ging sie zur Burg. Die Wächter erkannten ihr Gesicht, aber staunten, als sie sie vor der Burg stehen sahen. Einer sagte: „Seid ihr denn jetzt wieder entkommen? Gestern Abend habe ich Euch noch gesehen.“ Dann ließen sie sie hinein. In der Burg unterhielt sich der König mit der Hexe, die noch die Gestalt der Prinzessin hatte. Als er dann seine wahre Tochter kommen sah, erschrak er so heftig, dass er beinahe in Ohnmacht gefallen wäre.

Da sprach die Hexe zornig: „Das muss eine Hexe sein! Sie hat meine Gestalt angenommen!“ Die Prinzessin sagte aber: „Nein, das ist nicht wahr! Diese da ist eine Hexe! Seht, Vater! Mein Haarreif, den Ihr mir geschenkt habt!“ Der König war ganz verwirrt und sagte zur Hexe: „Da ist der Haarreif, den du nicht mehr hattest! Du konntest dich nicht mehr daran erinnern!“ „Oh, doch! Ich hatte ihn nur verloren! Wie Ihr seht, wurde er mir gestohlen“, sprach die Hexe. Dann fragte der König: „Wann habe ich ihn dir denn geschenkt?“ „An meinem Geburtstag“, antwortete sie. Er fragte weiter: „Das war dein einziger Wunsch an diesem Tag?“ Sie antwortete: „Ja.“ Dann meldete sich die wahre Prinzessin und sagte: „Nein, ich hatte noch zwei weitere Wünsche. Einer war ein Porträt und der dritte Wunsch, die Burg zu verlassen, wurde mir nicht gestattet. Daher verließ ich sie und bin dann der bösen Hexe begegnet, die meine Gestalt angenommen und sich in die Burg geschlichen hat.“ Als der König seiner wahren Tochter zu glauben begann, verlor die Hexe ihre Zauberkraft und erhielt ihre alte Gestalt wieder. Da schrie sie den König an: „Du Narr! Du sollst deine gerechte Strafe noch bekommen!“ Der König rief seine Soldaten und ließ die Hexe gefangen nehmen und in den Kerker werfen.

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