Es waren einmal ein Bruder und eine Schwester, die hießen Stefan und Liese. Sie lebten nicht weit von einem See entfernt. Ihre Eltern mochten es gar nicht, wenn die Kinder allein zum See gingen, denn man erzählte sich, dass dort ein Zauberwesen leben würde. An einem heißen Tag im Sommer wollten Stefan und Liese zum See gehen. Doch ihre Eltern hatten zu arbeiten. Da sagte Stefan zu seiner Schwester: „Weißt du was? Dann gehen nur wir beide zum See. Die Eltern werden es nicht merken, weil sie zu tun haben.“ Sie willigte ein und beide gingen zum See. Als sie dort am Ufer standen, kam plötzlich ein Krebs aus dem Wasser heraus und zwickte mit seinen Scheren in den Fuß des Mädchens. Stefan packte den Krebs, tat ihn von ihrem Fuß und warf das Tier in den See. Sie gingen erschrocken nach Hause, da wurde Liese ganz schwach und wäre zu Boden gefallen, wenn Stefan sie nicht gestützt hätte. Mühevoll gingen sie weiter nach Hause. Daheim sagte die Mutter, dass Liese hohes Fieber habe. Nach ein paar Tagen war Liese noch immer krank und Stefan und seine Eltern machten sich große Sorgen. Der Junge war bedrückt, ging heimlich zum See und fragte sich: „Ob es ihr denn wegen des Krebses so schlecht geht?“
Da sprach plötzlich eine liebliche Frauenstimme aus dem Wasser zu ihm: „Bring deine Schwester zum See, dann tut ihr nichts mehr weh!“ Er erschrak sehr und wusste nicht, was er tun sollte. Da erklang die Stimme wieder: „Bring deine Schwester zum See, dann tut ihr nichts mehr weh!“ Er zögerte etwas und überlegte, ob er Liese holen sollte. Doch da sagte die Stimme wieder den Satz: „Bring deine Schwester zum See, dann tut ihr nichts mehr weh!“ Stefan ließ sich überreden und eilte nach Hause. Dort angekommen, nahm er seine Schwester, die im Bett lag, und schleppte die Schwerkranke zum See. Als er vor dem Wasser stand, war er ganz erschöpft und legte seine Schwester an das Ufer. Da entstand plötzlich eine starke Welle, die auf das arme Mädchen zuraste, es mit sich riss und in den See spülte. Da erschrak Stefan heftig und er rief seine Schwester.
Als er so schrie und jammerte, erschien plötzlich ein Frosch, der sprach: „Junge, du suchst deine Schwester? Die Hexe vom See hat sie gefangen genommen. Sie sucht junge Mädchen, um sich mit ihnen ihre Lebenselixiere zu brauen.“ Da begann der Junge zu weinen, doch der Frosch beruhigte ihn: „Noch ist es nicht zu spät! Die Hexe lebt auf dem Grund des Sees in einer Luftblase, in der es ganz trocken ist. Dort muss sie deine Schwester erst vom Fieber heilen, damit sie sich ein Lebenselixier brauen kann. Du musst es aber schaffen, die Nixe, die von der Hexe in einer Höhle gefangen gehalten wird, zu befreien. Dann verliert die Böse ihre Macht und deine Schwester ist gerettet.“ „Wo ist die Nixe?“, fragte der Junge. „Sie wurde in einer Höhle in einem engen kleinen Tal versteckt, wo sie leiden soll. Nimm den schneeweißen Stein hier mit, er wird dir den Weg weisen. Leuchtet er hell, so bist du auf dem richtigen Weg; ist er matt, dann gehst du in die falsche Richtung. Der Stein wird dir von großem Nutzen sein.“ Stefan bedankte sich, nahm den Stein und machte sich auf den Weg. Er hinterließ den Eltern eine Nachricht, dass er mit seiner Schwester bei einem guten Arzt sei. Als er ein paar Stunden gegangen war, kam er in ein enges Tälchen, durch das ein Bächlein floss und wo nur ein schlechter, recht steiniger Weg war. Um ihn herum waren Wälder und steile Felswände.
Als er hier eine Weile gegangen war, fand er eine Höhle, deren Eingang mit einer großen Eisentüre verschlossen war. Er klopfte laut daran, doch es kam keine Antwort. „Kann sie mich nicht hören?“, fragte er sich. Er sah sich um und fand dann über der Höhle ein kleines Loch in der kahlen Felswand. Behutsam kletterte er hinauf und blickte durch das Loch, sah aber nichts. Dann sagte er: „Ach, wie soll ich die Nixe nur befreien? Ich komme doch nicht hinein!“ Da ertönte plötzlich eine sanfte Stimme, die fragte: „Ist da jemand?“ Er freute sich und gab zur Antwort: „Ja. Ich bin hier, um eine Nixe zu befreien.“ „Ich bin die Nixe! Oh, welche Freude! Wie leide ich unter Durst! In dieser Höhle ist nur ein kleiner Tümpel, aus dem ich trinken kann; zu essen gibt es nur Spinnen und Insekten. Befreie mich! Nur sehr jung scheinst du zu sein“, sagte sie. „Ja, ich bin ein Kind. Aber ich will dich trotzdem befreien. Meine Schwester ist von der Hexe am See gefangen genommen worden, und es ist meine Schuld.“ „Ach“, antwortete die Nixe, „diese Hexe hat mich hier eingesperrt, um den See zu besitzen. Aber wie du mich befreien sollst, weiß ich nicht.“ Er sprach: „Die Eisentüre bekomme ich nicht auf. Oder kannst du durch dieses Loch in der Felswand heraus?“ „Nein“, antwortete sie, „ich komme da nicht hinauf, weil ich vor Hunger und Durst zu schwach bin, da raufzuklettern. Ich bin sicherlich auch zu groß, um durch das Loch zu kommen.“ Plötzlich rutschte ihm der schneeweiße Stein aus der Hosentasche heraus und fiel in die Höhle. Die Nixe erschrak, weil er sie fast getroffen hätte. „Warum wirfst du nach mir?“, fragte sie wütend. „Tut mir leid! Mir ist der Stein aus der Tasche gefallen. Er hat mich hierhergeführt.“
Da freute sie sich, griff nach dem Stein und warf ihn mit all ihrer Kraft, die sie noch hatte, auf die Eisentür. Plötzlich stürzte diese ein und die Nixe konnte die Höhle verlassen. Der Junge kletterte hinunter zum Eingang der Höhle. Die Nixe sagte zu ihm: „Habe Dank! Durch meinen Stein konnte die Eisentüre leicht eingeschlagen werden! Ich habe einst Kinder angelockt und entführt und bereue es nun zutiefst. Die Hexe wollte auch auf meine Art und Weise Kinder entführen und hat mich ausgetrickst und eingesperrt. Jetzt ist sie besiegt und der See gehört wieder mir.“ „Ich hoffe, meiner Schwester geht es gut!“, sprach Stefan. „Lass uns zum See gehen! Aber vorher muss ich mich im Bach hier baden, um wieder zu Kräften zu kommen.“ Sie tat es und danach eilten die beiden zum See. Als sie dort ankamen, war es dunkel, und der Mond schien über dem Wasser. Da saß Liese am Ufer und als sie ihren Bruder sah, freute sie sich und umarmte ihn. „Ach, wie bin ich froh, dass du lebst und gesund bist!“, rief er unter Freudentränen. Die Nixe bedankte sich noch einmal beim Jungen und sprang ins Wasser. Man hat aber nie wieder etwas von ihr gehört.
© Anders Baumgartner. Alle Rechte vorbehalten.