Die Hufeisen

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal ein Prinz, der wollte eine Reise in ein anderes Land antreten, um sich mit einer Prinzessin zu vermählen. Als er sich vorbereitete, kam seine Mutter und sagte zu ihm: „Außerhalb der Stadt gibt es einen ganz besonderen Hufschmied. Er hatte die Pferde deines Vaters beschlagen und der war daher sehr erfolgreich in den vielen Schlachten damals. Der Hufschmied wollte aber nicht in der Stadt leben, daher musst du zu ihm reiten. Lass dir von ihm dein Pferd beschlagen, dann wird es dir viel Glück bringen.“ Der Prinz verstand nicht, wieso er sein Pferd von dem besagten Hufschmied beschlagen lassen sollte, gehorchte aber seiner Mutter und tat, wie sie ihm geraten hatte.

Als er dann mit seinem beschlagenen Pferd in das andere Land ritt, dachte er sich: „Ach! Es läuft nicht schneller als sonst! Die Hufeisen sind gar nicht besser als andere!“ Bald kam er in der Burg an, in der die Prinzessin lebte. Sie hatte eine Stiefmutter, die die Königin des Landes war, aber auch eine Stiefschwester. Der Prinz freite die Prinzessin, aber die Königin sprach: „Nun, du musst eine Aufgabe bestehen, bevor du meine Stieftochter heiraten kannst. In unserem Land lebt ein gar mächtiger Zauberer, der meine kostbarsten Edelsteine gestohlen hat, nur um mir zu beweisen, dass er mächtiger ist als ich. Du musst in sein Reich und mir die Edelsteine zurückbringen, die dort in einer Höhle aufbewahrt werden. Aber er darf dich nicht erblicken, wenn du in seinem Reich bist, sonst vernichtet er dich.“ Die Prinzessin hatte jedoch Gefallen gefunden an dem schönen Prinzen und bat ihre Stiefmutter, ihm keine Aufgabe zu stellen. Da wurde die Königin zornig und sagte zu ihrer Stieftochter: „Nein, das geht auf gar keinen Fall! Bereits fünf andere Prinzen waren angetreten, sind aber gescheitert! Auch dieser muss es versuchen, das ist gerecht!“ Die Prinzessin schwieg daraufhin und der Prinz ritt zum Reich des Zauberers.

An der Grenze sagte er zu seinem Pferd: „Jetzt laufe so schnell du nur kannst, bis wir eine Höhle sehen!“ Plötzlich rannte das Pferd so schnell, dass es innerhalb eines Augenblicks bei der besagten Höhle war. Der Prinz konnte es kaum glauben und wunderte sich sehr darüber. Dann fiel ihm ein, dass es die Hufeisen gewesen sein mussten, durch die das Pferd so schnell laufen konnte. Er ging in die Höhle und sah darin die Edelsteine, die er sofort nahm und in seine Tasche steckte. Dann setzte er sich aufs Pferd und befahl ihm, schnell zurückzulaufen, und in nur einem Augenblick waren sie wieder an der Grenze des Reichs des Zauberers. Da sagte der Prinz: „Scheinbar bist du so schnell, wenn wir in Not sind. Das ist wirklich gut.“ Plötzlich leuchtete das ganze Reich des Zauberers kurz auf. Dann wehte eine herrliche Brise herüber und eine Haselmaus lief daher, die sprach: „Oh, edler Prinz! Du hast den bösen Zauberer besiegt, der mir meine Weisheit gestohlen hatte und die ich jetzt wiederhabe. Zum Dank will ich dich eine Zeit lang begleiten und dir von Nutzen sein!“ Da freute sich der Prinz sehr darüber. Dann sprach die Haselmaus: „Siehst du diese hohe Staude da hinten? Die wird Königskerze genannt, es ist aber keine gewöhnliche Königskerze. Nimm sie mit, denn sie wird dir Glück bringen. Das wirst du noch brauchen.“ Der Prinz schnitt die Königskerze ab und nahm sie mit. Die Haselmaus hielt sich aber am Schwanz des Pferdes fest und der Prinz ritt los.

In der Burg zeigte er die Edelsteine, worüber sich die Königin sehr wunderte. Sie dachte sich: „Dieser Junge kann was. Wieso soll ihn meine Stieftochter bekommen? Wenn sie dann Königin ist, regiert sie auch über mein Reich, ich habe dann nichts mehr zu sagen. Soll doch meine Tochter ihn heiraten!“ Daraufhin führte sie die Prinzessin in die hinterste, finsterste Kammer im Kerker. Als diese hineingegangen war, verschloss die böse Königin die Kammer und sagte: „Jetzt wirst du hier drinnen verrotten!“ Dann ging sie zu ihrer Tochter und sprach zu ihr: „Von nun an spielst du meine Stieftochter. Ich habe die Prinzessin eingesperrt, weil du Königin werden sollst. Der Prinz wird dich in ein paar Tagen auf seine Burg bringen, wo ihr heiraten werdet. Deine Zofe soll sich aber für dich ausgeben und von nun an vermummt sein, damit hier niemand Verdacht schöpft. Auch du trage jetzt einen Schleier.“ Die Tochter erwiderte aber: „Wie soll das denn gelingen? Ich sehe doch der Prinzessin nicht ähnlich!“ „Mach dir keine Sorgen“, entgegnete die Königin, „der Prinz hat die Prinzessin doch nur einmal kurz gesehen, als er um sie freien wollte. Dich hat er aber noch gar nicht gesehen. Du wirst erst bei der Hochzeit deinen Schleier vor ihm herunternehmen, er wird dich dann nicht abweisen.“ Dann willigte die Tochter ein und setzte einen Schleier auf. Der Prinz glaubte, dass es seine Angebetete sei.

Als er später im Burggarten weilte, lief die Haselmaus plötzlich zu ihm und sagte:

„Hast du denn nicht geschaut?
Du hast nicht die rechte Braut.
Wieso ich dich nun verwunder?
Nimm ihren Schleier herunter,
denn die Prinzessin ist es nicht,
die hat ein anderes Gesicht.“

Da wurde er stutzig und ging zur Tochter der Königin und nahm ihr den Schleier ab, worüber sie sich sehr ärgerte. „Du siehst nicht aus wie die Prinzessin“, sagte er. Sie schimpfte laut und eilte zu ihrer Mutter, der sie das Vorgefallene erzählte. Die Haselmaus hatte sich aber zum Prinzen geschlichen und sagte zu ihm:

„Auf, auf! Geh nun schnell,
jetzt, wenn es noch so hell
in des Kerkers hinterste Kammer,
dort, wo da ist so viel Jammer.
Da ist deine geliebte Prinzessin,
eile, bevor euer Leben ist dahin!“

Er rannte mit der Haselmaus in seiner Tasche in den Kerker und brach die Tür der Kammer, in der die Prinzessin gefangen war, mit seinem Schwert auf. Beide rannten zum Pferd, doch die Königin hatte bereits angeordnet, den Prinzen gefangen zu nehmen. Es standen einige bewaffnete Soldaten da und die Königin rief: „Seht, er will die Prinzessin entführen! Lasst ihn nicht entkommen!“ Der Prinz schaffte es gerade noch, sich mit seiner Geliebten auf sein Pferd zu setzen, und befahl ihm: „Eile! Eile!“ Da rannte das Pferd so schnell, dass es an den Wächtern mühelos vorbeikam und innerhalb eines Augenblicks außerhalb der Reichweite der Burg war. Als das Pferd aber losgelaufen war, war dem Prinzen die Königskerze aus der Tasche gefallen und blieb im Burghof liegen.

Die Königin befahl ihren Soldaten, dass sie den Prinzen verfolgen sollten. Da erblickte sie den Stiel der Königskerze, der noch immer schön blühte und sich sogleich in den Boden des Burghofes einwurzelte. Darüber war sie sehr verwundert und wollte die Pflanze herausreißen, doch sie schaffte es nicht. Da kam ihre Tochter herbei und auch diese staunte über die Pflanze. Plötzlich wurde aus der Königskerze ein dichtes Dornengestrüpp, das die Königin und ihre Tochter umringte, sodass sie darin gefangen waren. Soldaten kamen zu Hilfe und versuchten das Gestrüpp mit ihren Schwertern zu zerstören, doch dies gelang ihnen nicht. Dann versuchten sie es niederzubrennen, aber auch dies gelang ihnen nicht. Da sagte die Tochter zu ihrer Mutter: „Wir kommen hier nicht mehr heraus! Vielleicht hat der Prinz uns das angetan und lässt uns erst wieder frei, wenn wir ihn mit der Prinzessin ziehen lassen.“ „Das kommt nicht in Frage!“, sagte die Königin.

Es vergingen aber Stunden und bald kam der Abend. Da war die Tochter bereits sehr wütend und sagte zu ihrer Mutter: „Nein, so kann es nicht weitergehen! Wir hungern und dursten und bald wird es kalt! Befiehl deinen Soldaten doch, den Prinzen nicht mehr zu verfolgen!“ Der Königin wurde es aber auch zu viel und sie sprach: „Dann soll er die Prinzessin haben! Unser Reich soll jedoch weiterhin uns gehören, das verlange ich.“ Dann ordnete sie an, die losgeschickten Soldaten zurückzuholen, denn der Prinz solle nicht mehr verfolgt werden. Da wurde das Dornengestrüpp auf einmal kleiner, blieb aber noch immer undurchdringlich. Als es dunkel wurde, bekam die Tochter Angst und sagte: „Mutter, wir müssen den beiden auch unser Reich überlassen, sonst bleiben wir für immer hier gefangen!“ Die Königin wollte vorerst nicht nachgeben, aber sie sah ein, dass es keine andere Lösung gab. Als sie sagte: „Na, dann soll dieser Prinz auch unser Reich bekommen!“, verschwand das Gestrüpp fast vollständig, nur ein dorniger Zweig blieb übrig. Die Hofleute hatten aber erkannt, dass das Zeichen waren, und sie ließen die Königin und ihre Tochter gefangen nehmen und in den Kerker werfen. Der Prinz war bereits in seiner Burg, da sagte die Haselmaus zu ihm:

„Die böse Königin sitzt im Kerker gefangen,
du kannst nun ohne Angst in ihre Burg gelangen.“

Der Prinz ritt mit seiner Geliebten zur Burg und als er dort ankam, verwandelte sich der Dornenzweig wieder in die Königskerze zurück. Bald wurde Hochzeit gefeiert und beide zu König und Königin gekrönt.

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