Das Kleid aus Schnee

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal ein Mädchen, das lebte in einer kleinen Stadt, wo es bei seinem Onkel und seiner Tante aufwuchs, da es keine Eltern mehr hatte. Als im Spätherbst der erste Schnee fiel, freute es sich sehr. Aber der Onkel fragte schroff: „Was springst und tollst du so in der Stube herum?“ „Weil es schneit“, antwortete es. „Und da musst du dann so hüpfen? Setz dich hin und gib Ruhe!“, befahl er streng und die Kleine gehorchte. Nach ein paar Tagen schmolz der Schnee wieder und das Mädchen klagte: „Jetzt kommt der Dezember und es liegt kein Schnee!“ Der Onkel sprach: „Na und? Dann liegt halt keiner, du jammerst ständig herum. Geh deiner Tante beim Kochen helfen. Dann hast du wenigstens etwas zu tun.“ Das Mädchen war gehorsam und half der Tante. Bald darauf wurde es wieder kalt. Die Sicht war klar, die Sonne schien vom strahlend blauen Himmel und der Frost zog in die Stadt ein. Am Abend saß das Mädchen am Fenster und blickte hinaus. Es konnte zum Hauptplatz hinuntersehen und beobachtete, wie die Menschen nach Hause gingen. Da bildeten sich plötzlich wunderschöne Eisblumen am Fenster. Das Mädchen war überrascht und dachte sich: „An den Fenstern in unserem Haus bilden sich doch kaum jemals welche.“

Da entdeckte es eine besonders schöne Eisblume und sagte sich: „Wenn ich diese nur pflücken könnte wie eine Blume im Frühling!“ Dann berührte es sie und merkte, dass es die Eisblume tatsächlich bewegen konnte, und pflückte sie. „Wie ging das denn? Und warum schmilzt sie nicht in meiner Hand?“, fragte es sich überrascht. Es wollte das aber nicht dem Onkel zeigen, der ja stets mürrisch war. Als es die Blume in ein Kistchen legen wollte, begann diese plötzlich zu schmelzen. Da berührte das Mädchen sie wieder und sie blieb fest und schmolz nicht weiter. Es war darüber so überrascht, dass es aus dem Staunen nicht mehr herauskam. Dann legte es sich mit der Blume in der Hand schlafen und diese schmolz dadurch nicht. Am nächsten Morgen versteckte das Mädchen die Blume in seinen langen Haaren, sodass sie niemand sehen konnte.

Am Abend begann es zu stürmen und plötzlich peitschte der Wind jede Menge Schnee auf das Haus, in dem das Mädchen lebte. „Wie gibt es denn das? Es scheint, als ob all die anderen Häuser am Platz weniger Schnee bekommen würden als unseres“, sagte der Onkel. Das Mädchen freute sich aber und konnte den kommenden Tag kaum erwarten, denn da wollte es im Schnee spielen. Das tat es dann auch und hüpfte vor Freude in der verschneiten Wiese vor der Stadt. Plötzlich fiel ihm die Eisblume aus dem Haar. Als es sie aufheben wollte, stand da ein alter Mann mit schneeweißem Bart vor dem Mädchen. Er hob die Eisblume auf und gab sie dem Kind. Dann sprach er: „Sieh mal einer an! Du kannst diese Blume anfassen, ohne dass sie schmilzt!“ Das Mädchen erwiderte: „Nicht nur das! In der Stube schmilzt sie sogar, wenn ich sie nicht berühre!“ „Dann musst du ein ganz besonderes Kind sein! Ich würde dir gerne etwas geben!“ Er bückte sich, griff in den Schnee und zog ein Kleid heraus. Dieses war schneeweiß und sehr schön anzusehen. „Nimm es und zieh es an!“, forderte er das Mädchen auf. „Das kann ich nicht anziehen! Ich würde darin womöglich erfrieren!“, antwortete es. „Nein, das wirst du sicherlich nicht! Du kannst auch die Eisblume berühren, ohne sie zum Schmelzen zu bringen.“

Dann nahm das Mädchen das Kleid und zog es an, doch ihm wurde nicht kalt und es fror nicht. „Wie kann das sein?“, fragte es. „Du bist ein besonderes Mädchen“, antwortete er, „du kannst mir eine Helferin sein. Jetzt ist aber noch nicht die Zeit gekommen, in der du deine Berufung annehmen sollst. Zuvor kommt noch eine Prüfung. In ein paar Tagen wird es wieder wärmer und der Schnee wird schnell schmelzen. Danach wird es aber bald wieder schneien und kälter werden, dann komm noch einmal hierher mit deinem Kleid.“ „Aber was soll meine Prüfung sein und von welcher Berufung sprichst du?“, fragte es. „Du musst dein Kleid aus Schnee bis zu unserem nächsten Wiedersehen unbeschadet erhalten. Dann kannst du die Arbeit beginnen, von der ich dir schon noch erzählen werde.“ Da verschwand er plötzlich und das Mädchen fragte sich, ob es sich das nicht nur eingebildet hatte. Aber es trug noch das schneeweiße Kleid und sagte: „Dann wird es doch kein Traum gewesen sein!“ Es ging bald wieder heim und bevor es das Haus betrat, zog es das Kleid aus Schnee aus. In der Stube begann dieses jedoch zu schmelzen. So zog das Mädchen es wieder an, trug aber andere Sachen darüber, sodass niemand das schneeweiße Kleid sehen konnte.

Bald taute es und der Schnee draußen schmolz. Nach drei Tagen wurde es aber wieder kalt und es fiel noch viel mehr Schnee. Das Mädchen hatte sich nicht zu baden getraut, denn wenn es das Kleid aus Schnee weggelegt hätte, wäre es in der warmen Stube sofort geschmolzen. Die Tante sagte daher: „Wie lange hast du dich schon nicht mehr gebadet? Komm, du nimmst jetzt ein Bad!“ Das Mädchen sträubte sich, doch die Tante wurde böse und zog dem Kind das oberste Kleid, das es trug, aus. Da sah sie, dass es noch das schneeweiße Kleid anhatte. „Wo hast du das denn her? Ach, es ist ja eiskalt! Hast du das Kleid denn nass gemacht?“, fragte sie wütend und zog es dem Mädchen aus, obwohl dieses sich weigerte und bat, es anbehalten zu dürfen. Dann warf die Tante das schneeweiße Kleid auf den Boden und wusch das Mädchen. Da begann das Kleid langsam zu schmelzen und die Tante tat es in einen Eimer und sprach: „Ach, das tropft ja, so nass ist es! Ich werde es gleich aufhängen, aber zuerst muss ich mich noch ums Essen kümmern.“

Als das Mädchen in den Eimer blickte, sah es, dass das Kleid bereits ganz geschmolzen und nur mehr Wasser war. Da erschrak es sehr und sagte: „Jetzt ist es verloren!“ Es berührte das Wasser im Eimer und plötzlich wurde dieses zu Schnee. Als das Mädchen mit beiden Händen hineingriff, war das Kleid wieder ganz und es zog es voll Freude an. Dann lief es heimlich hinaus zur verschneiten Wiese. Dort traf es den alten Mann, der sagte: „Gut gemacht! Jetzt kommst du mit mir mit! Ich bringe den Winter ins Land und brauche viele Helfer. Kürzlich hat eine Dienerin von mir geehelicht und lebt wieder bei den Menschen. Daher suchte ich nach einer neuen Helferin und du bist auserwählt. Folge mir und arbeite an meiner Seite! Denn ohne Winter kommt kein Frühling!“ Dann gab er dem Mädchen die Eisblume, die es beim Baden verloren hatte. Es freute sich und arbeitete bei dem alten Mann, der den Winter brachte. Dadurch wurde es froh und glücklich.

© Anders Baumgartner. Alle Rechte vorbehalten.