Es lebten einst unter der Erde unzählige Erdmännlein. Sie hatten einen König, der mächtig und bösartig war. Die Erdmännlein lebten recht zufrieden in den Tag hinein, aber ihrem König war es oft langweilig und er wollte noch mehr Macht haben. Eines Tages erfuhr er von seinen Untergebenen, dass der König, dessen Reich sich über seinem befand, eine wunderschöne Tochter hatte. Er dachte sich: „Was ist, wenn ich sie heirate? Dann gehört mir nicht nur dieses Reich unter der Erde hier, sondern auch das über mir.“ Er sandte zwei Erdmännlein zu dem anderen König und sie meldeten diesem, dass ihr Herrscher die schöne Prinzessin heiraten wolle. Der König erschrak sehr und antwortete: „Nein, meine geliebte Tochter soll nicht unter der Erde leben!“ Die zwei Erdmännlein meldeten das ihrem König, der dadurch sehr wütend wurde, und schickte sie noch einmal hin. Diesmal aber mit der Drohung, bei einer Abweisung die Prinzessin holen zu lassen. Wieder erschrak der König, der über dem Reich der Erdmännlein regierte, und sprach: „Nein! Ich lasse mir nicht drohen! Euer König soll meine Tochter nicht bekommen!“ Diese Nachricht überbrachten die zwei Erdmännlein ihrem Herrscher, der darüber sehr zornig wurde. Er überlegte ein Weilchen, dann sagte er: „Geht noch einmal zu diesem König. Wenn er diesmal nicht nachgibt, sagt ihm, dass ich die Prinzessin mit Gewalt holen lasse!“ Die zwei meldeten dies, doch der erschrockene König sagte voll Zorn: „Nein! Ich lasse mich nicht erpressen! Meiner geliebten Tochter wird nichts geschehen!“ Als die zwei Boten ihrem Herrscher das berichteten, war er außer sich vor Wut und schrie: „Na, dann werden wir sie uns holen!“
Der König in der Menschenwelt ließ aber zehn Soldaten die Kammer seiner Tochter bewachen. Auch die Burg wurde von hundert weiteren Wächtern beschützt. Doch der König der Erdmännlein war klug und hatte einen Plan. Er nahm Tonerde, die bei ihm reichlich vorhanden war, und formte daraus einen sehr großen Adler mit gewaltigen Krallen und einem kräftigen Schnabel. Dann erweckte er ihn mit einem Zauber zum Leben und sagte zu ihm: „Fliege in die Burg und bring mir die schöne Prinzessin her!“ Der Adler verließ daraufhin das Reich unter der Erde und flog zur Burg. Er zerstörte das Fenster mit seinem kräftigen Schnabel und drang in die Kammer der Prinzessin ein. Mit seinen riesigen Krallen packte er sie und flog mit ihr ins Reich unter der Erde. Sie stand nun vor dem Thron des bösen Königs, der zu ihr sprach: „Na, siehst du! Du entkommst mir nicht! Ich bin zu mächtig! Jetzt werden wir uns verloben und bald werden wir heiraten!“ „Ich bitte Euch, bringt mich zurück! Ich will bei meinem Vater sein!“, klagte sie. „Dein Vater“, sprach der König, „der ist ein alter Sturkopf! Jetzt habe ich dich mit Gewalt hierherbringen lassen! Das geschieht ihm recht! Du wirst meine Braut und somit auch Königin. Ich werde dadurch auch über dein Reich regieren.“ Sie begann zu weinen, doch er sagte: „Lass das Weinen! Das bringt dir nichts! Diener! Zeigt ihr ihre Kammer!“ Dann kamen zwei Erdmännlein und zeigten ihr das Zimmer.
Der Vater der Prinzessin litt aber großen Kummer. Er ließ verkünden: „Wer meine Tochter aus der Unterwelt heraufholt, wird sie zur Frau nehmen dürfen.“ Viele Männer wollten daraufhin die Prinzessin befreien. Doch dem König der Erdmännlein entging dies nicht. Er wollte aber nicht, dass die kleinen Erdmännlein die Freier abwehren; denn obwohl sie zahlreich waren, war ihm das nicht sicher genug. So ließ er seine Untergebenen viel Tonerde herbeibringen und formte daraus dreißig große und wendige Schlangen, denen er Leben einhauchte. Als er sie losschickte, um sein Reich zu bewachen, fragte ein hoher Diener ihn: „Hoheit! Sind denn diese Giftschlangen nicht zu wenig?“ Da überlegte der König und sprach: „Das ist wohl war. Dann sollen mir meine Untergebenen noch viel mehr Ton herbeischaffen! Ich will auch noch große, menschenähnliche Krieger herstellen lassen!“ So wurde viel Erde herbeigetragen und der König ließ nun die kunstfertigsten unter den Erdmännlein starke Krieger daraus formen. Ein jeder Krieger sollte viel größer als ein Mensch werden. Da die Arbeit an den Figuren lange dauerte, wurde der König ungeduldig und sagte: „Wie lange dauert das denn noch? Werdet endlich fertig!“ Doch die Männlein antworteten: „Hoheit! Wir brauchen Zeit!“ Er wurde aber noch zorniger und befahl: „Wir haben keine Zeit! Vollendet euer Werk!“ Sie beendeten bald darauf die zwanzig geschaffenen Krieger. Der König erweckte sie aber zum Leben und sie gingen los, um das Reich zu bewachen.
Doch ein hoher Diener war noch immer nicht beruhigt und fragte den König: „Was ist, wenn eine ganze Armee von den Menschen kommt und die zwanzig Krieger bekämpft?“ „Das sagst du erst jetzt? Wir haben nicht noch Zeit, hunderte von Kriegern zu erschaffen“, antwortete der König verärgert. „Oder wie wäre es mit zehn großen, feuerspeienden Drachen? Die verschrecken alle.“ „Auch für die haben wir keine Zeit!“, sagte der König wütend. „Wir müssen uns aber besser schützen“, sprach der Diener besorgt. Dann willigte der König ein und ließ noch mehr Tonerde herbeibringen. Besonders kunstfertige Erdmännlein bearbeiteten sie und schufen zehn schauererregende Drachen. Die Arbeit dauerte wieder recht lange und der König wurde erneut sehr ungeduldig. „Wie lange braucht ihr denn noch?“, fragte er. Die Männlein antworteten bescheiden: „So etwas ist nicht schnell zu erschaffen! Habt Geduld, Hoheit!“ Doch der König befahl ihnen, sich zu beeilen. So vollendeten die Männlein die Arbeit bald. Dann erweckte er die Drachen zum Leben und auch sie verteidigten das Reich. Es kamen viele tapfere Männer in das Reich unter der Erde. Aber viele von ihnen wurden von den heimtückischen Schlangen gebissen. Dann gab es Männer, die den Schlangen gerade noch entkommen konnten, aber beim Anblick der zwanzig großen Krieger in Furcht und Schrecken versetzt wurden. Nur wenige wagten es, mit ihnen zu kämpfen, und verloren stets. Der König der Tiefe wollte aber bald heiraten und sich damit auch zum König des Landes über seinem Reich krönen lassen.
Um diese Zeit wollte auch ein junger Bauernsohn die Prinzessin befreien, bewaffnet mit einem Schwert. Er erfuhr, wo der Eingang zum Reich der Erdmännlein war. So ging er dorthin. In einem tiefen Tal befand sich ein Wald, an dessen dunkelster Stelle ein Loch im Boden war. Hier wollte der Bauernsohn hinabsteigen, doch davor stand eine alte Frau, die sagte: „Keine Ruh ist mehr im Wald! So viele Männer verschwinden im Erdloch und kommen meist nicht mehr zurück. Und die zurückkehren, haben versagt! Aber wenn du mir ein Stück Brot gibst, dann helf ich dir!“ „Wie willst du alte Frau mir helfen? Ich geb dir sowieso etwas von meinem Brot. Hier hast du“, sagte er lachend und gab ihr ein Stück. Sie bedankte sich und erzählte ihm: „Die stolzen Tölpel haben mich nur verlacht und mir nichts gegeben. Aber du hast ein goldenes Herz. Deshalb gebe ich dir dieses Zauberwasser. Trage es bei dir und pass gut darauf auf. Denn das wird dir helfen können, die bösen Wächter dort unten zu besiegen. Zuerst kommen dreißig hinterlistige Schlangen, dann zwanzig große Krieger und dann noch zehn Drachen. Das Zauberwasser wirkt bei diesen Wesen, die die Erdmännlein geschaffen haben.“ Er nahm das kleine Gefäß mit Wasser an, bedankte sich und stieg das Erdloch hinab.
Es war anfangs so finster, dass er glaubte, umkehren zu müssen. Doch dann gelangte er in einen breiteren Gang, der hell beleuchtet war. Er sah dort aber nichts, denn die bösartigen Schlangen hatten sich versteckt. Da kroch urplötzlich eine zischende Schlange daher und wollte ihn beißen. Da erschrak er so sehr, dass er rückwärts fiel. Dabei stürzte er auf eine Schlange, die hinter ihm erschien. Sie wurde von ihm zerquetscht und sofort zu Ton. Er konnte sich kaum besinnen, riss aber ein Stück Ton ab und warf dieses der anderen Schlange ins Gesicht. Dann zog er sein Schwert und wollte die weiteren Schlangen, die da auftauchten, besiegen. Doch sie waren so wendig, dass er es nicht schaffte. Dann fiel ihm das Zauberwasser ein und er verschüttete es um sich herum auf den Boden. Als die Schlangen über die nasse Stelle krochen, wurden sie sofort zu Ton. Da war er heilfroh, sagte aber: „Jetzt habe ich Dummkopf das ganze Wasser verschüttet.“ Doch dann sah er, dass sich das Gefäß von selbst wieder mit Wasser auffüllte.
Er ging weiter, doch dann wurde es erneut finster. Da bekam er wieder große Angst. Also ging er nur mehr zaghaft weiter und gelangte dann wieder in einen hellen Gang. Hier erblickte er bald die zwanzig großen Krieger. Er erschrak heftig bei ihrem Anblick. Die Krieger schliefen aber und er heckte einen Plan aus. Er ging zurück zu den Tonschlangen, nahm jede Menge Ton und formte daraus einen Korb. Er ging zu den schlafenden Kriegern weiter, versteckte sich unter dem Korb und kroch so langsam und vorsichtig an ihnen vorbei. Da stieß er aus Versehen gegen den Fuß eines Kriegers und dieser drohte daraufhin, aufzuwachen. Da schüttete der Bauernsohn das Zauberwasser gegen das Bein des erwachenden Kriegers. Dieser wurde daraufhin zu Ton und zerfiel sogar, weil er schlecht bearbeitet worden war.
Der Bauernsohn ging weiter und gelangte erneut in einen finsteren Gang. Als es wieder lichter wurde, fand er sogleich die zehn bösen Drachen und er tat den Korb über sich. Die Drachen hatten ihn aber bemerkt und einer spie Feuer auf seinen Korb. Da dieser aus Ton war, wurde dieser augenblicklich gebrannt. Der Bauernsohn bekam große Angst und wusste nicht, wie er die Drachen besiegen könnte. Weil ihm nichts anderes einfiel, wusch sich der Bauernsohn schnell mit dem Zauberwasser und befeuchtete damit auch seine Kleidung. Da spie ein anderer Drache so stark Feuer auf den Korb, bis dieser zerbrach. Als ein dritter Drache auf den Bauernsohn mit Feuer zielte, wurde er durch die Wirkung des Zauberwassers nicht verbrannt. Daher wollte er weiterlaufen, doch ein Drache trat ihn mit dem Fuß, sodass er stürzte. Schnell zog er sein Schwert und stieß es in den Fuß des Drachen. Dessen ganzer Körper wurde daraufhin zu Ton und zerfiel in viele Stücke, da er schlecht verarbeitet war. Dann wollte den Bauernsohn noch ein Drache mit Feuer bespeien, doch durch das Zauberwasser geschah ihm nichts. Als er wieder aufgestanden war, wollte jener Drache ihn mit seinem Schwanz umwerfen. Doch der Bauernsohn stieß ihm gekonnt in den Schwanz und auch dieser Drache wurde wieder zu Ton und zerfiel in mehrere Stücke, die auch auf andere Drachen fielen. Der Bauernsohn konnte sich gerade noch vor den übrig gebliebenen Drachen retten und gelangte wieder in einen dunklen Gang.
Dann sah er ein kleines Tor und klopfte daran. Einige Erdmännlein, die auf der anderen Seite des Tores standen, hörten das Klopfen und waren dadurch sehr erschrocken. Sie eilten zum König und berichteten ihm davon. Da war dieser sehr erstaunt und schrie: „Lasst ihn nicht herein!“ Als dem Bauernsohn aber niemand das Tor aufmachte, versuchte er es zu öffnen. Da es aber fest verschlossen war, riss er es mit seinem Schwert auf und ging in das Reich der Erdmännlein hinein. Diese umzingelten ihn bald. Da sie aber so klein wie Zwerge waren, bekam er keine große Angst. Er zog sein Schwert und rief: „Gebt mir die Prinzessin!“ Obwohl sie so viele waren, bekamen sie große Angst und trauten sich nicht, mit ihm zu kämpfen. Einer sagte nur: „Wir können sie dir nicht geben! Sie wird bald unseren König heiraten!“ Der Bauernsohn erwiderte: „Wo ist euer König? Wenn ihr mir nicht die Prinzessin geben wollt, dann lasst mich mit eurem König sprechen!“ Sie führten ihn zu ihrem Herrscher, der sehr erbost war. Er setzte sich auf den Thron und schrie: „Wie hast du es geschafft, hierherzukommen? Aber nun ist Schluss! Du wirst es bitter bereuen, mein Reich betreten zu haben!“ Doch der Bauernsohn erwiderte: „Nicht so! Ich habe keine Angst vor dir! Gib mir die Prinzessin! Auf der Stelle!“
Da fing der König an zu toben, doch der Bauernsohn hatte sich etwas ausgedacht. Er rannte zum Thron und hielt dem König das Gefäß mit dem Zauberwasser vor die Nase und sagte: „Damit habe ich die Schlangen, Krieger und Drachen besiegt. Es ist ein Zauberwasser und wenn du mir nicht sofort die Prinzessin gibst, schütte ich es über dich!“ Der König wusste nicht, dass es ihm nichts anhaben konnte, bekam große Angst und befahl seinen Untergebenen, dem Bauernsohn die Prinzessin zu geben. Dieser lief mit ihr eilig davon. Der König hüpfte aber herum und brüllte: „Ach, wir hätten sie nicht gehen lassen dürfen! Los! Gebt mir Ton! Ich erschaffe einen Greifvogel, der sie einholt und ihm das gefährliche Zauberwasser wegnimmt!“ Dann entnahmen die Erdmännlein Tonerde aus der Decke des Saales. Doch plötzlich fing es zu beben an und die Decke stürzte ein. Sie hatten bereits zu viel Erde entnommen, um die Krieger und Drachen zu schaffen. So stürzte das unterirdische Reich ein und der König der Erdmännlein wurde verschüttet. Der Bauernsohn und die Prinzessin entkamen den Drachen und Kriegern wieder und konnten heil zurückkehren. Die Prinzessin wurde mit dem Bauernsohn verheiratet und sie beide waren glücklich bis an ihr Ende.
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