Es war einmal eine bitterböse Königin, die hatte eine Stieftochter, die das Kind ihres verstorbenen Mannes, des Königs, war. Die böse Herrscherin trug stets einen sonderbaren Mantel, den sie nur nachts ablegte. Die Diener hatten ihr einen Mantel empfohlen, den Königinnen normalerweise trugen. Doch sie hatte sich stets widersetzt, denn sie wollte nur ihren Mantel tragen. Das verwunderte alle in der Burg, aber sie erzählte niemandem, wieso sie es so tat. Eines Tages ließ die junge Prinzessin einen Diener holen, der ihr sehr ergeben war. Doch niemand in der Burg konnte ihn finden. Da erschrak die Prinzessin und fragte sich, wo der Diener denn sein könnte. Die Königin sagte aber: „Das kann dir doch egal sein. Wenn jemand von den Bediensteten verschwindet, dann müssen wir halt jemand anders einstellen!“
Die Prinzessin war darüber sehr verwundert. Eines Nachts, als sie nicht schlafen konnte, ging sie heimlich durch die Gänge der Burg. Es gab aber einen Turm, der direkt an das Burggebäude grenzte. Die Prinzessin ging in jener Nacht bis zur Tür, die zum Turm führte. Denn man konnte nur von hier aus in ihn gelangen. Die Prinzessin stand vor der Tür und fragte sich: „Ich bin noch nie in diesem Turm gewesen. Was sich wohl darin befindet? Leben wird da bestimmt niemand.“ Da sie so neugierig war, öffnete sie die Tür und blickte hinein. Es war aber stockfinster, nur eine kleine Fackel an der Wand gab etwas Licht. Sie erkannte einige Stufen in der Finsternis, die hinunterführten. „Was sich da unten befindet?“, fragte sie sich. Sie war einfach zu neugierig, um umzukehren. So ging sie langsam die Stufen hinunter. Alle paar Meter war eine kleine Fackel zu sehen, die den Treppenaufgang nur wenig erhellte. Plötzlich hörte die Prinzessin ein Seufzen. Sie erschrak und wollte wieder zurückgehen. Doch da die Neugierde ihr keine Ruhe ließ, ging sie langsam weiter. Als sie unten angekommen war, sah sie eine alte Tür. Plötzlich vernahm sie wieder ein Seufzen und Stöhnen. Dann hörte sie auch ihre Stiefmutter schreien: „Hör auf zu jammern! Das bringt dir ja doch nichts!“ Die Prinzessin erschrak heftig und warf einen Blick durch das Schlüsselloch. Da sah sie den verschwundenen Diener, der hart arbeiten musste. Auch die Stiefmutter konnte sie erkennen. „Wieso ist der Diener hier unten und arbeitet in der Nacht?“
Die Königin sprach aber zu ihm: „Nun begebe ich mich in mein Schlafgemach. Du arbeitest jedoch wie immer bis zum Morgengrauen.“ Die Prinzessin ging schnell wieder hinauf und lief in ihre Kammer. Dort grübelte sie, wieso die Königin den Diener da unten eingesperrt hatte. Da es ihr keine Ruhe ließ, wollte sie noch einmal in den Turm. Die Tür in der Burg, die zu ihm führte, war nun aber verschlossen. „Ach, jetzt hat sie die Stiefmutter zugesperrt.“ So legte sie sich schlafen. Am nächsten Tag sah sie aber, dass die Königin stets einen Schlüssel bei sich trug. Das hatte sie bereits früher getan, doch nun fiel er der Prinzessin stärker auf. „Der könnte in das kleine Schlüsselloch passen. Wenn ich den Schlüssel nur bekommen würde.“ Die Prinzessin fand aber einen anderen Schlüssel in ihrer Kammer, der dem der Königin ein wenig ähnelte. Diese schlief während des Tages auf dem Thron ein, da sie in der Nacht zuvor zu wenig geschlafen hatte. Die Prinzessin hörte das Schnarchen vom Burggarten aus, da das Fenster des Thronsaales weit geöffnet war und neben dem Garten lag. Sie hatte gerade einen Rosenzweig abgeschnitten, an dessen Dornen sie sich stach. „Röslein, stich mich nicht, ist doch die Stiefmutter ein Bösewicht!“ Dann steckte sie den Zweig in ihre Tasche.
Die Prinzessin ging in den Saal, nahm ihren ganzen Mut zusammen und stahl den Schlüssel der Königin und legte den eigenen zu dieser. Dann eilte die Prinzessin zur Tür, die in den Turm führte, und sperrte sie auf. Sie ging hinunter, konnte dort aber niemanden hören. Als sie durch das Schlüsselloch der Türe da ganz unten blickte, konnte sie den Diener nicht mehr sehen. Es gab aber im Raum hinter der Türe unzählige Edelsteine. „Ich würde nur zu gerne wissen, was hier los ist“, sagte sie sich. „Das würde ich gerne wissen“, sprach plötzlich die Königin, die hinter der Prinzessin stand. Da erschrak diese so sehr, dass sie ganz bleich im Gesicht wurde. „Wie konntest du mir nur den Schlüssel stehlen, du dreistes Ding! Zuerst der Diener, der mein Geheimnis gelüftet hat, und jetzt auch noch du!“ Die Prinzessin konnte vor Schreck nicht sprechen, aber die Königin packte sie am Arm, schloss die Tür auf und zerrte das Mädchen in die Kammer mit den Edelsteinen. „Von nun an wirst du hier für mich arbeiten und die schönsten Ketten herstellen müssen! Das kann aber nur nachts geschehen, denn tags wirst du wie der Diener nicht zu sehen oder zu hören sein, damit niemand deine Hilfeschreie hören kann.“ Die Prinzessin bekam große Angst und bat: „Königin! Habt doch Mitleid! Ich bin die Prinzessin und mein Vater wollte, dass ich Königin werde!“ „Das wird nicht geschehen!“
Die Königin wollte die Prinzessin verzaubern, doch da verfing sich eine der Dornen des Rosenzweigs, den die Prinzessin mitgenommen hatte, im Mantel der Königin. Da die Böse eine schnelle Bewegung machte, verursachten die Dornen einen Kratzer. Die erschrak aber heftig und schrie: „Mein kostbarer Mantel! Ohne ihn habe ich keine Macht mehr!“ Da machte die Prinzessin mit dem Zweig schnell einen größeren Kratzer in den Mantel und die Kraft der Königin schwand. Auf einmal erschien der Diener und war überglücklich. Die Königin wurde in den Kerker geworfen, die Prinzessin lebte aber ein glückliches Leben.
© Anders Baumgartner. Alle Rechte vorbehalten.