Maria und Anne

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es waren einmal in einem kleinen Dorf zwei junge Frauen, die miteinander eng befreundet waren. Es ereignete sich, dass beide zur selben Zeit schwanger wurden. Als sie eines Tages entlang des Baches spazieren gingen, stolperte die eine über einen Stein und wäre fast in den Bach gestürzt. Aber die andere hielt sie noch gerade rechtzeitig fest. Da sagte die, die beinahe gestürzt war: „Habe Dank! Weißt du was? Unsere Kinder sollen für immer zusammen sein! Sie sollen sich gegenseitig helfen und schützen! Ich reiße einen Zweig von dem Haselstrauch hier ab und pflanze ihn ein! Der Strauch, der daraus wächst, soll ein Zeichen für die Verbundenheit der zwei Kinder sein!“ Die andere willigte ein und sie gingen wieder nach Hause.

Drei Monate später gebar die eine Frau ein Mädchen. Sie nannte es Maria. Fünf Tage später gebar die andere Frau ebenfalls ein Mädchen. Es wurde Anne genannt. Da sagte die Mutter der kleinen Maria: „Weil beide Mädchen sind, sollen sie ewig gute Freundinnen und wie Schwestern sein.“ Doch wenige Tage, nachdem Anne geboren war, starb ihre Mutter. So kümmerte sich Marias Mutter auch um Anne, denn deren Vater arbeitete viel und kümmerte sich kaum um das Mädchen. Die beiden Kinder verbrachten sehr viel Zeit zusammen. Nur abends musste Anne in das Haus des Vaters zurück, da dieser dann von der Arbeit zurückkam. Jeder im Dorf wusste, wie sehr sich die Mädchen mochten und man sagte, dass beide zusammen eins seien wie eine „Marianne“. Es vergingen ein paar Jahre und als Annes Vater eines Tages heiratete, wollte er das Dorf verlassen und wegziehen. Da erschraken die beiden Mädchen sehr. Maria begann zu weinen und sprach: „Ich will nicht von dir getrennt werden. Wir wollen für immer zusammen sein!“ Da tröstete Anna sie: „Weine doch nicht! Weißt du nichts mehr vom Haselnussstrauch, den deine Mutter hinter dein Haus gepflanzt hat? Der wächst in die Richtung, in der das Haus meines Vaters steht. Wenn ich wegziehe, wird der Strauch in die Richtung wachsen, in der ich dann wohne. Dann weißt du, wo ich bin.“ Maria antwortete: „Das hilft doch nicht viel. Ich weiß trotzdem nicht, wo du lebst, und wir sind getrennt.“

Wenige Tage später musste Anne das Dorf verlassen und der Haselstrauch wuchs dann tatsächlich in die Richtung, in der Anne nun wohnte. Die beiden Mädchen wollten sich aber wiedersehen. Maria ging zum Strauch und dachte sich: „Was ist, wenn ich mir einen Zweig davon abschneide, vielleicht bringt er mir Glück.“ Sie schnitt sich einen Zweig ab und ging damit fort, um Anne zu finden. Bald merkte sie, dass der Zweig ihr die Richtung wies. Das freute sie sehr und sie gehorchte ihm. Sie musste aber durch einen großen Wald und fand darin spätabends eine verlassene Holzhütte, in der sie übernachtete. Am nächsten Morgen zog sie weiter und sah nach ein paar Stunden ein Männchen, das sie fragte: „Was hast du da in der Hand?“ Maria antwortete: „Einen Haselzweig.“ Da merkte das Männchen, dass der Zweig eine besondere Macht besaß. Es sprach: „Gib ihn mir doch. Ich würde ihn gerne haben.“ Doch Maria erwiderte: „Nein, liebes Männlein! Ich brauche ihn selbst! Hier im Wald gibt es doch genug Haselnusssträucher!“ Da wurde das Männchen zornig und fragte: „Wozu brauchst du ihn denn?“ Maria antwortete nur schnell: „Um meine liebe Freundin zu finden“, und ging weiter. Das machte das Männlein so wütend, dass es einmal klatschte und den Haselnusszweig damit verzauberte. Nun zeigte der Zweig die falsche Richtung an und Maria wusste es nicht. Bald kam sie in eine Stadt und machte dort kurz Rast.

Dann ging sie weiter und gelangte bald wieder in einen Wald. Dort sah sie plötzlich einen Bären und erschrak sehr. Doch der Bär sagte: „Fürchte dich nicht! Ich tu dir nichts zuleide! Was führt dich hierher?“ Sie antwortete zitternd: „Ach, ich suche meine Freundin, die wie eine Schwester für mich ist.“ „Ist sie denn in diesem Wald?“, fragte der Bär. „Nein, mein Zweig zeigt mir die Richtung und dorthin muss ich gehen. Ich hoffe, ich bin bald bei ihr.“ „Wieso kann das dein Zweig machen? Ist er verzaubert worden?“ „Ich weiß es nicht, wieso er das kann.“ Dann wollte sie weitergehen, weil sie sich noch immer fürchtete. „Willst du nicht bleiben? Ich bin so allein. Jeder Mensch meidet mich aus Angst“, bat er wehmütig. Sie fragte aber überrascht: „Wieso bist du denn nicht mit anderen Bären zusammen? Wieso willst du bei den Menschen sein?“ Er antwortete: „Du denkst, ich will dich fressen. Aber so ist es nicht. Du wirst mir sowieso nicht glauben.“ „Erzähl es mir.“ „Nun, ich bin verzaubert worden. Eigentlich bin ich ein Mensch. Ich suche daher die Anwesenheit der Menschen.“ Maria fiel es schwer, ihm zu glauben, aber er tat ihr doch auch leid. Da es ihr keine Ruhe ließ, wollte sie wissen, wer ihn verzaubert hatte. „Ein böses Männchen“, antwortete er, „das im Wald nördlich der Stadt lebt. Es wollte mich einen Weg nicht gehen lassen und wurde so wütend, dass es mich in diesen Bären verwandelte.“ Sie war überrascht darüber und ging weiter.

Als sie ein paar Stunden gegangen war, sah sie ein Wildschwein. Da erschrak sie wieder sehr, doch das Tier sprach: „Hab keine Angst! Ich tu dir nichts! Was machst du hier?“ Sie erzählte dem Wildschwein, dass sie ihre Freundin suchte. Da erfuhr sie von ihm, dass auch er von einem Männchen verzaubert wurde. Sie ging weiter und als sie noch ein paar Stunden gegangen war, bekam sie Angst, dass sie im Wald schlafen müsse. Da sah sie plötzlich einen Wolf, doch der sagte: „Du brauchst keine Angst zu haben! Ich fresse dich nicht! Was suchst du im tiefen Wald?“ Sie erzählte ihm wieder alles und er sprach: „Kind, ich glaube, das Männchen, das du gesehen hast, will dich in die Irre führen. Es wird wohl das gleiche Männchen sein, das mich verzaubert hat. Dein Haselzweig führt dich nur ins Hochgebirge.“ Da erschrak sie und sagte: „Du auch? Da gibt es noch ein Wildschwein und einen Bären, die von einem Männchen verzaubert worden sind!“ Der Wolf sprach: „Dieses wird uns wohl alle verzaubert haben!“ „Ja, wieso tut ihr euch nicht zusammen und legt euch mit dem Männchen an?“ „Mädchen, wie sollten wir das schaffen? Es ist ein mächtiger Zauberer!“ „Aber gemeinsam könnten wir es womöglich schaffen!“ Der Wolf überlegte kurz und stimmte zu. Dann sagte er aber: „Es wird gleich dunkel. Leg dich dort hinter der Fichte schlafen. Da wird dir nichts passieren, ich beschütze dich.“ Maria hatte noch etwas Angst vor dem Wolf, schlief aber trotzdem ein. Am nächsten Morgen gingen sie und der Wolf los und suchten das Wildschwein. Nach ein paar Stunden fanden sie es. Sie überredeten es, mit ihnen mitzugehen und das Männchen zu besiegen. Es willigte ein und die drei suchten den Bären, den sie auch fanden. Auch er schloss sich ihnen an.

Als sie diesen Wald verließen, gingen sie nicht in die Stadt, sondern in den Wald, in dem das Männchen lebte. Maria ging mit dem Bären voraus, der Wolf und das Wildschwein schlichen hinterher. Nach einem Weilchen fanden sie tatsächlich das böse Männchen, das zornig rief: „Was tut ihr hier? Was fällt euch ein, hier wieder aufzutauchen? Ich werde euch vernichten!“ Da lief das Wildschwein daher, das sich im Gebüsch versteckt hatte, und stieß das Männchen um. Dann kam der Wolf aus seinem Versteck und verschlang das Männchen. Plötzlich verwandelten sich die drei Tiere wieder in die Gestalt von jungen Männern zurück. Auch Marias Haselzweig zeigte wieder die wahre Richtung an. Sie freuten sich alle sehr. Doch dann sagte Maria: „Leider muss ich noch nach meiner Freundin suchen!“ Da sagte einer der Männer: „Ich lebe in der Stadt. Dort werden wir übernachten und morgen fahren wir mit der Kutsche zu deiner Freundin! Dann musst du nicht zu Fuß gehen!“ Da freute sich Maria und übernachtete in der Stadt. Am nächsten Tag fuhr sie mit dem Mann in einer Kutsche zu ihrer Freundin. Als sie dort ankam und sich die beiden Mädchen sahen, freuten sie sich sehr und weinten vor Freude. Als Maria wieder zu ihren Eltern zurückkam, freuten sich auch diese sehr, denn sie waren krank vor Sorge gewesen. Da sie sahen, wie sehr die Kinder aneinander hingen, zogen auch sie in das Dorf, in dem Anne lebte. Dann waren die beiden Mädchen nicht mehr getrennt und wurden zusammen wieder „Marianne“ genannt.

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