Es war einmal eine Sennerin, die arbeitete in einer Almhütte. Eines Tages kam ein Ziegenhirte zu ihr gerannt, riss aufgeregt die Tür auf und rief: „Sennerin! Zwei Ziegen sind verschwunden! Ich glaub, ein Ungeheuer hat sie mitgenommen! Da war so ein schauerliches Knurren und plötzlich waren sie weg!“ Die Sennerin erschrak und fragte: „Wo kann denn hier ein Ungeheuer sein?“ Der Junge traute sich gar nicht mehr zu seiner Ziegenherde, aber die Sennerin sprach: „Du musst dich um die Ziegen kümmern.“ „Nichts auf dieser Welt kann mich dazu bringen, noch einmal zu dieser Wiese zu gehen.“ „Wenn du meine Arbeit machen würdest, könnte ich doch die Ziegen hüten“, sagte die Sennerin, die sehr mutig war. Der Junge sagte zu. Sie ging zu den Ziegen und hütete sie.
Es kam aber so, dass bald darauf ein anderer Junge auf die Ziegenherde aufpassen sollte. Aber auch dieser kam zur Sennerin gerannt und sagte: „Ich lag in der Wiese und blickte zum Himmel, da hörte ich ein lautes Knurren und wollte sehen, woher das Geräusch kam. Da fand ich drei Ziegen nicht mehr; sie werden wohl von einem Untier gefressen worden sein.“ „Jetzt hast du auch so etwas erlebt wie der andere Junge. Als ich da oben war, habe ich nichts gesehen.“ „Ich will nicht mehr zurück.“ „Dann mache meine Arbeit und ich gehe zu den Ziegen!“ Die Sennerin war nicht ängstlich und ging zur Wiese. Dort ging aber wieder alles problemlos vonstatten. Es wurde erneut ein anderer Junge zu den Ziegen geschickt und die Sennerin konnte wieder ihrer Arbeit nachgehen. Doch auch dieser Junge rannte zu ihr und sagte: „Da war ein lautes Knurren und es verschwanden vier Ziegen. Jetzt sind nur noch sechs da.“ Da sprach die Sennerin: „Ach, du meine Güte! Dein Bauer wird noch arm werden! Wieso das nur immer geschieht, wenn ihr Jungen die Ziegen hütet!“ „Sennerin, ich …“, stammelte der Junge los, doch sie sagte: „Ja, ich weiß, du traust dich nicht wieder dorthin. Dann musst aber du Senner sein.“
Sie ging zur Wiese und hütete die Ziegen. Der Bauer, dem die Tiere gehörten, wollte aber, dass die Sennerin sie hütete. Als ihr Bauer, für den sie arbeitete, es gestattete, ging sie zu den Ziegen und passte auf sie auf. Plötzlich hörte sie ein lautes Knurren. Da sprang sie auf und rief: „He! Wer auch immer da ist! Gib die Ziegen zurück und verschwinde!“ Dann hörte sie ein lautes, tiefes Lachen. „Die verdau ich schon. Ich will noch mehr fressen. Ich nehm heute gleich fünf, da ich nicht genug von ihnen bekomme“, sprach das Ungeheuer mit lauter Stimme. Man konnte aber niemanden sehen. „Nein, du haust ab! Die Ziegen gehören dem Bauern!“ Plötzlich kam ein heftiger Wind auf und jede Menge Staub wirbelte durch die Luft, so dass die Sennerin ihre eigene Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte. Als der Wind nachließ, sah sie, dass nur mehr eine Ziege da war! Da erschrak sie, denn der Bauer hatte ihr angedroht, für die Ziegen, die sie verlieren würde, zu zahlen. „Was soll ich jetzt machen? Hm. Ich gehe da hinauf. Denn von dort schien die Stimme zu kommen.“
Die Sennerin ging mit der einen Ziege, die sie nicht alleinlassen wollte, hinauf. Sie sah aber weit und breit niemanden. „Das Untier wird schon sehr schnell gewesen sein.“ Plötzlich huschte ein kleines Männlein aus dem Gebüsch und sprach: „Du suchst das Ungeheuer, das die Ziegen geraubt hat?“ „Ja, das tue ich!“ „Das wird schwer werden, es zu finden! Es gibt hier drei Tore, die sich in der Felswand befinden. Sie werden aber erst sichtbar, wenn du sagst: ‚Genug der Abenteuer, hinein will das Ungeheuer!‘ Dann wird sich ein jedes Tor öffnen und du musst hinein und eine Aufgabe bestehen. Hinter dem dritten Tor wird aber die größte und schwierigste sein. Wenn du es schaffst, werden die fünf Ziegen gerettet und das Ungeheuer besiegt werden. Denn die Tiere wird es erst in der Abenddämmerung fressen. “ „Welche Aufgaben sind zu bestehen?“ „Hinter dem ersten Tor musst du eine kupferne Krone herausholen, hinter dem zweiten eine silberne Krone und hinter dem dritten Tor eine goldene. Hab aber Acht vor Gefahren wie Eis, Wasser und Feuer.“
Die Sennerin bedankte sich und ging mit der Ziege zur nahen Felswand hinauf. Dort sagte sie: „Genug der Abenteuer, hinein will das Ungeheuer!“ Da erschien ganz in der Nähe ein großes Tor in der Felswand. Sie eilte dorthin und ging mit der Ziege hinein. Da erblickte sie an der Wand gegenüber die kupferne Krone. Sie lachte und wollte hingehen, doch da fiel ein eiskalter Tropfen von der Decke. Sie wurde nicht getroffen, aber sah, dass der Wassertropfen am Boden sofort vereiste. „Na so leicht wird es wohl nicht“, sagte sie sich und starrte auf die Decke. Da sah sie wieder einen Tropfen, der herunterfallen wollte. Sie eilte zur Krone und blickte immer wieder zur Decke. Da fiel ein weiterer Tropfen herunter und sie stellte sich weit weg davon. Als sie aber die Krone genommen hatte und zum Tor zurückgehen wollte, fielen auf einmal viel mehr Tropfen zu Boden. Die Sennerin erschrak, aber besann sich sofort wieder und rannte schnell zwischen den herabfallenden Tropfen zum Tor zurück. „Das war Glück“, sagte sie sich und ging mit der Ziege weiter. Dann sprach sie wieder: „Genug der Abenteuer, hinein will das Ungeheuer!“
Da erschien wieder ein Tor, das sich öffnete. Die Sennerin sah die silberne Krone an der gegenüberliegenden Wand. Sie blickte zur Decke, konnte aber keine Tropfen sehen. Zaghaft ging sie hinein, da begann plötzlich ein Bächlein in der Höhle zu fließen. Ihre Füße wurden nass, aber erfroren nicht. „Gott sei Dank! Das Wasser ist nicht eiskalt!“, sagte sie erleichtert und ging weiter. Aber der Bach wurde immer größer und größer. Sie nahm die silberne Krone, die auf einem großen Stein lag. Ihr reichte das Wasser bereits bis zu den Knien. Als sie zurückgehen wollte, wurde das Wasser noch viel stärker und die Sennerin glaubte schon, ertrinken zu müssen. Die Ziege rannte vom Tor ein wenig weg, da das Wasser herausfloss. Mit letzter Kraft schaffte es die Sennerin noch, aus der Höhle zu kommen. Pitschnass und nach Luft schnappend sprach sie: „Jetzt wäre ich beinahe abgesoffen!“ Sie schloss das Tor und rief die Ziege zu sich. Dann suchte sie nach der kupfernen Krone, die sie vor dem Tor liegen gelassen hatte und die vom Wasser ein Stück weiter weg fortgeschwemmt worden war. „Ich hoffe, ich werde schnell wieder trocken“, sagte sie sich erschöpft. Dann sprach sie: „Genug der Abenteuer, hinein will das Ungeheuer! - Ja, ich hab wirklich schon genug!“ Da erschien das dritte Tor nicht weit entfernt. Als sie sich ihm näherte, spürte sie eine ungeheure Hitze aus der Höhle kommen. Da sah sie einige Feuerflammen darin und sie sagte: „Also hier werde ich sicher trocken!“ Sie legte die zwei Kronen auf den Boden und sprach zur Ziege: „Bleib du wieder hier draußen!“ Die Goldkrone war wie üblich an der gegenüberliegenden Wand. Die Sennerin ging hinein und spürte die erdrückende Hitze. Plötzlich teilten sich die Feuerflammen und es wurde noch heißer.
Sie ging eilig zur goldenen Krone, die herrlich glänzte. Als sie sie genommen hatte, wurde auch ihr angst und bange. Sie wollte hinauseilen, doch es entstanden noch mehr und immer größere Feuerflammen. Sie suchte nach einem Durchweg zwischen den Feuern, doch es war schwierig zu finden. Nur in letzter Sekunde fand sie noch einen Ausweg aus der Gluthölle, aber ein Teil ihres Kleides war durch die Feuer ein wenig schwarz geworden. „Das ist halb so schlimm“, sprach sie erleichtert vor dem Tor. Plötzlich fiel in der Höhle Wasser auf das Feuer und löschte es. Da sprangen die fünf Ziegen überglücklich aus der Höhle heraus. Die Sennerin war ganz verwundert und freute sich über alle Maßen. Da sah sie, dass die drei Kronen zu weißen Steinen geworden waren. Dann ging sie mit den Ziegen zur Wiese zurück. Sie erzählte von ihrem Abenteuer, doch der Bauer glaubte ihr nicht, dass sie das Ungeheuer besiegt hatte. „Frag doch die Ziegen selbst“, sprach sie. Widerwillig ging er zur Wiese und fragte seine Tiere: „Ist denn das Ungeheuer tatsächlich besiegt worden?“ Aber sie blickten ihn zornig an und meckerten. Er konnte es sich nicht erklären und sprach: „Ich weiß nicht, was meine Ziegen heute haben.“ Da sagten sie:
„Du hast unserer Retterin nicht geglaubt,
obwohl uns das Ungeheuer hat geraubt.“
Der Bauer begann nun der Sennerin zu glauben und erzählte es weiter. Bald konnte sie wieder ihre geliebte Arbeit als Sennerin antreten und lebte glücklich.
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