Die Ohren des Drachen

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Die Ohren des Drachen

Es war einmal ein Mädchen, das lebte bei seiner Großmutter. Die alte Frau tat sich bereits schwer, sich um ihre Enkelin zu kümmern. Eines Tages ging das Mädchen in den Wald und sah ein kleines Häuschen, vor dem ein Tisch stand. Es lag aber eine Schüssel mit warmer Suppe auf dem Tisch. Da das Mädchen nur wenig gefrühstückt hatte, bekam es einen so großen Hunger, dass es sich an den Tisch setzte und etwas von der Suppe aß. Da hörte es plötzlich jemanden aus dem Häuschen kommen und lief in das Gebüsch. Eine alte Hexe kam heraus und setzte sich an den Tisch, um zu essen. Als sie fertig war, ging sie mit der leeren Schüssel in ihr Häuschen zurück. Dann wollte das Mädchen wieder schnell nach Hause gehen.

Doch da hörte es plötzlich drei Kinderstimmen im Häuschen, worüber es sich sehr wunderte. Als es ein Stückchen gegangen war, hörte es eine ältere Stimme im Wald sagen: „Dieses Kind hat es geschafft!“ Da fragte das Mädchen schüchtern: „Was habe ich geschafft?“ Die Stimme sprach: „Ja, hast du mich denn verstanden?“ Das Mädchen bejahte es und es kam ein Männlein aus dem Dickicht. Dieses sprach: „Eigentlich kann mich niemand hören. Du hast nicht die Suppe der alten Hexe gegessen?“ Dann antwortete das Mädchen: „Doch, habe ich, weil ich so hungrig war.“ „Also doch. Das ist auch der Grund, warum du mich hören kannst. Die bösartige Hexe hat mich verzaubert. Ihretwegen kann mich niemand mehr verstehen. Ebenso die drei Kinder, die sie gefangen hält.“ „Oh, die Kinder habe ich auch gehört. Warum hält sie sie gefangen?“ Das Männlein sprach: „Weil sie bösartig ist und sie quälen will. Einmal wird sie sie fressen.“ Da erschrak das Mädchen sehr und sagte: „Wir müssen da doch etwas tun!“ „Ja, was denn? Die Hexe ist sehr mächtig. Die kann man nicht so einfach besiegen.“ „Aber es muss doch etwas geben, liebes Männlein!“ „Ja, aber das wirst du nicht schaffen! Der Hexe gehört ein Drache, der im nahen Berg lebt. Wenn man ihm auf die Ohren schlägt, wird auch sie besiegt.“ „Einen Drachen kann ich wirklich nicht besiegen“, sagte das Mädchen traurig. Dann sprach das Männlein: „Warte! Hier in diesem Wald wurde jemand von der Hexe in ein Steinhäuschen eingekerkert. Ich kann nichts, was er sagt, verstehen, aber du wirst es sicher können. Als sie ihn dort einsperrte, sagte sie, dass er nun von seinem guten Freund getrennt sei und dass er nicht mehr den Drachen besiegen könne. Wieso gehen wir nicht zu ihm?“

Das Mädchen willigte ein und sie gingen ein Stück bis zum besagten Steinhäuschen. Das hatte aber keine Türe, nur ein ganz kleines Fensterchen. Da fragte das Mädchen: „Ist da jemand im Häuschen?“ Ein Mann sagte seufzend heraus: „Ach, wenn du mich nur hören könntest!“ Darauf antwortete das Mädchen: „Das kann ich.“ Da freute sich der Mann sehr und fragte: „Wie kannst du das?“ „Weil ich die Suppe der Hexe gegessen habe, kann ich dich verstehen. Würdest du mir helfen, den Drachen zu besiegen?“ Der Mann seufzte und sprach: „Das kann ich ja nicht. Ich komme hier nicht heraus, das Steinhäuschen hat keine Tür. Nur durch das kleine Fenster gibt mir jeden Tag ein Vogel steinhartes Brot und Brackwasser. Die Hexe will mich am Leben lassen, damit ich leide. Ich vermisse meinen teuren Freund, mit dem ich den Drachen töten wollte.“ „Kann ich denn nichts tun?“ „Ich bräuchte schon ein Beil, damit ich das Mauerwerk um das Fenster herum aufstemmen könnte. Ich bin recht stark, ich glaube, ich schaffe das.“ Das Männlein ging schnell heim, holte gleich zwei Beile und gab dem Mann eines davon durchs Fenster.

Dann hämmerten der Mann im Steinhäuschen von innen und das Männlein von außen drauf los. Es dauerte ein paar Stunden, doch dann war das Loch im Häuschen so groß, dass der Mann herauskommen konnte. Die drei gingen daraufhin zum Berg, in dem der Drache lebte. Vor dem Eingang der Höhle stand ein Steinhäuschen, das genauso aussah, wie das, in welchem der Mann gefangen gehalten worden war. Da fragte das Mädchen: „Ist da jemand in diesem Häuschen?“ Da antwortete ein Mann: „Ja, wenn du mich nur hören könntest!“ „Ich kann dich hören“, sagte das Mädchen. Da freute sich der Mann sehr und sie redeten miteinander. Dann bekam er durch das kleine Fenster ein Beil und er und auch der andere Mann stemmten das Mauerwerk auf. Als der Gefangene heraussteigen konnte, sah er seinen guten Freund, sie beide freuten sich sehr und umarmten sich. Sie konnten sich durch den bösen Zauber der Hexe aber nicht verstehen. Doch sie waren fest entschlossen, den Drachen im Berg zu besiegen.

Alle vier gingen in die Höhle hinein und fanden den Drachen, der gerade schlief. Da lief der Mann, der zuerst befreit worden war, mit seinem Beil auf ihn los. Der Drache wurde dadurch nicht getötet; nicht einmal eine Verletzung zog er sich zu. Er wurde aber wach und war sehr zornig. Da rief das Männlein: „Ihr müsst dem Drachen auf die Ohren schlagen! Erst dadurch wird er getötet!“ Das Mädchen rief das den beiden Freunden zu, aber der Drache spie Feuer und alle mussten dem Feuerstrom ausweichen. Doch dann standen die zwei Freunde hinter dem Untier und kletterten seinen Rücken hinauf. Der Drache wollte sie abschütteln, aber schaffte es nicht. Der Freund, der gerade erst befreit worden war, gelangte an den Kopf des Drachen und schlug ihm mit dem Beil auf die Ohren.

Daraufhin stürzte der Drache besiegt zu Boden. Die beiden Freunde blieben dabei unversehrt. Auf einmal konnten sich alle wieder verstehen und sie freuten sich sehr. Dann sagte das Männlein: „Seht! Da ist der Schatz der bösen Hexe! Er wurde vom Drachen bewacht, doch nun kann ein jeder von euch etwas davon nehmen.“ Das Mädchen und die zwei Freunde nahmen ein paar Goldstücke, ließen aber noch viel Kostbares in der Schatztruhe zurück. Da es Abend geworden war, verbrachten die vier die Nacht im Steinhäuschen vor der Höhle. Am nächsten Tag gingen sie zum Häuschen der Hexe, die verschwunden war, und befreiten die drei Kinder. Das Mädchen lebte aber noch einige Jahre bei seiner Großmutter ohne Not leiden zu müssen.

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