Es war einmal ein Prinz, dem wurde die Zeit zu lang und bevor er zum König gekrönt werden sollte, ging er zu seinem Vater. Er sagte zu diesem: „Vater, lasst mich noch die weite Welt sehen, bevor ich König werde.“ „Alles, was du brauchst, ist hier.“ „Vater, ich bitte Euch!“ „Nun gut! Dann geh! Aber du musst genau an dem Tag, an dem du abreist, in einem Jahr wieder in der Burg sein, sonst verweigere ich dir den Thron. Ich will deine Zuverlässigkeit überprüfen.“ Der Prinz versprach es und ritt ein paar Tage darauf los. Er war zu Beginn überwältigt von der Andersartigkeit der weiten Welt, doch bald ließ der Freudentaumel nach und er wäre gern wieder nach Hause gereist. Er sagte sich jedoch: „Ich muss diese Zeit aber noch nutzen, denn wenn ich König bin, kann ich das nicht mehr tun.“ Als er vor einem dürren Feld in unbeschreiblicher Hitze stand und Rast halten wollte, sagte er: „Ach, ich will wieder nach Hause. Voll Hochmut bin ich losgereist, doch nun bereue ich es. Ich will wieder nach Hause reiten.“
Dann machte er sich auf den Heimweg. Als er nicht mehr weit von seinem Reich entfernt war, kam ein armes, altes Mütterchen auf ihn zu, das ihn freundlich lächelnd fragte: „Junger Herr! Ich bitte Euch um ein Stück Brot!“ Da blieb er stehen und sagte: „Das will ich gerne tun.“ Er stieg vom Pferd und gab ihr ein Stück Brot. Dann sagte es: „Ich danke Euch, mein edler Herr! Aber dafür, dass Ihr mir zu essen gegeben habt, will ich Euch auch etwas geben. Hinter meiner Hütte befindet sich eine Quelle. Davon dürft Ihr trinken, denn Ihr seht durstig und erschöpft aus.“ „Ja, das bin ich auch! Zeig mir die Quelle, ich möchte trinken!“ Das Mütterchen führte ihn freundlich lächelnd zu der Hütte, hinter der sich die Quelle befand. „Da ist sie. Trinkt daraus, das habt Ihr Euch verdient.“ Er bückte sich und trank viel von dem Wasser. Da wurde ihm plötzlich schwindelig und er verlor sein Gedächtnis. Er wusste nicht mehr, dass er ein Prinz war. Das Mütterchen lachte aber laut auf und sagte: „Jetzt wirst du nicht mehr König des Nachbarreiches werden können. Stattdessen bleibst du hier und musst mir dienen.“ So wurde der Prinz der Gefangene der Hexe.
Es kam aber der Tag, an dem der Prinz hätte heimkommen sollen. Der König war sehr aufgeregt und sagte zu seinem obersten Diener: „Ich glaube, er wird nicht mehr rechtzeitig in die Burg kommen. Gleich wird es dunkel und morgen ist es dann zu spät. Dann darf er mir nicht auf den Thron folgen. Wieso habe ich das auch nur gesagt? Jetzt muss ich mich daran halten, denn sonst wird man mich nicht mehr respektieren.“ „Hoheit! Vielleicht kommt er ja doch noch rechtzeitig!“, sagte der Diener. „Und was, wenn nicht? Wer wird das Königreich regieren? Er war doch mein einziger Sohn!“ Als der Prinz nicht zurückkam, war der König sehr verzweifelt. „Es ist genug, dass sich mein Sohn als unzuverlässig herausstellt. Es ist genug, dass ich keinen Thronfolger mehr habe. Aber dass er mir auch diese Sorgen bereitet. Ich habe nun auch noch Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte!“ „Hoheit“, sprach der Diener, „ihm wird nichts zugestoßen sein. Er ist nicht pünktlich nach Hause gekommen.“
Doch das konnte den König auch nur wenig trösten. Es dauerte nicht lange, da flog ein schönes Vögelchen im Land umher und erzählte, dass es weit gereist sei und gar viel erzählen könne. Es lebte an einem See im Land und blieb einige Monate mit seiner Familie hier. Das kam auch dem König zu Ohren und er ließ den Vogel herbeirufen. Dieser flog zu ihm und fragte den König: „Was wünscht Ihr?“ „Hast du meinen Sohn gesehen?“ „Nein, einen Mann, der so aussieht wie Euer Sohn, habe ich nicht gesehen. Ich weiß zwar viel zu erzählen, weil ich allerhand gesehen habe, aber ich bin doch nur ein kleines Vöglein. Aber wenn Ihr wollt, könnte ich mit Hilfe meiner Brüder und Schwestern den Prinzen suchen. Soll ich sie rufen?“ „Ja, ich wäre dir ewig dankbar!“ Da rief das Vögelchen seine Geschwister. So flogen sie los in alle Himmelsrichtungen. Sie suchten sieben Tage lang, doch sie fanden ihn nicht.
Das berichtete das Vöglein dem König. Doch der wurde bittertraurig und war so unglücklich, dass das Vöglein wieder Mitleid bekam. „Dann werde ich noch einmal mit meinen Geschwistern auf die Suche gehen, aber auch meine Vettern zu Hilfe nehmen.“ Gesagt, getan. Doch auch nach vierzehn Tagen Suche fanden die Geschwister und Vettern des Vogels den Prinzen nicht. Einer hatte ihn gesehen, doch er erkannte den Prinzen nicht, da dieser schlechte Kleider tragen und arbeiten musste. Als der Vogel dem König berichtete, dass sie den Prinzen nicht gefunden hatten, begann dieser vor Verzweiflung zu weinen. Das rührte den Vogel so sehr, dass er auch seine und die Kinder seiner Geschwister und Vettern rief, damit sie ihm bei der Suche helfen würden. So schwärmten sie aus und nach einundzwanzig Tagen fand einer – ein Neffe des Vögleins, das mit dem König gesprochen hatte - tatsächlich den Prinzen und sah, wie dieser für die Hexe arbeiten musste. Sie sagte nämlich lachend:
„Prinzlein, Prinzlein,
bist du doch mein!
Ein fremder Königssohn
schuftet für mich ohne Lohn!“
Immer wieder sagte sie diese Spottverse und das Vögelchen hörte es und wollte es seinem Onkel erzählen. Doch dieser hatte dem König bereits gesagt: „Jetzt haben wir einundzwanzig Tage gesucht und ihn nicht gefunden. Wir haben alles Mögliche getan.“ So kam aber das Vögelchen, das den Prinzen gesehen hatte, und berichtete das dem König. Wie freute sich dieser darüber! Er schickte nun aber Soldaten zu der Hexe, die sie überwältigten und gefangen nehmen. Da ihre Macht nun gebrochen war, konnte sich der Prinz wieder an alles erinnern und wurde zum König zurückgebracht. Dieser war glücklich, seinen Sohn wiederzuhaben. Er sagte: „Habe ich dich auch als Thronfolger ausgeschlossen, so sollst du es wieder werden! Denn es war nicht einmal deine Schuld, dass du nicht mehr zurückgekommen bist. Du warst doch verzaubert.“ So konnte der Prinz doch noch König werden.
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