Die Prinzessinnen in der Grotte der Antworten

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal ein König, der hatte zwei Töchter, die eine war zwei Jahre und die andere ein Jahr alt. Seine Frau war aber wieder hochschwanger und der König wünschte seinen Kindern alles erdenklich Gute. Daher reiste er zu einer Zauberin, die den Menschen wohlgesinnt war. Er fragte sie: „Welche gute Gaben kannst du meinen Kindern geben?“ Sie nahm drei Zapfen einer Zirbelkiefer, gab sie ihm und sprach: „Der erste Zapfen gibt Weisheit, der andere Entschlossenheit und der dritte Schönheit. Wenn du in der Burg vor einem Kind einen Zapfen aufbrichst, fällt ein Samen heraus, der dem Kind eine dieser Gaben geben wird.“ Der König bedankte sich und fuhr mit der Kutsche zurück in die Burg. Die Fahrt war durch die holprige Straße recht unruhig und dem König fielen zwei Zapfen aus dem Wagen, worüber er sich sehr ärgerte. So hatte er nur mehr den einen.

Er sagte sich: „Na, dann muss ich mich entscheiden, welches meiner Kinder diesen Zapfen bekommen wird, auch wenn ich nicht mehr weiß, welche Gabe dieser hier schenkt.“ Als er in der Burg war, meldete man ihm, dass seine dritte Tochter bereits auf die Welt gekommen sei, seine Frau aber im Sterben lag. Da erschrak er und eilte zu seiner Geliebten, die bald verstarb. Er sagte sich nun: „Dann soll meine jüngste Tochter die Gabe bekommen. Ich will nicht eines Tages sagen können, dass sie es nicht wert war, dass meine Frau durch ihre Geburt gestorben ist. Durch die Gabe wird sie ihren Schwestern aber etwas voraushaben.“ Daher ging er zu seinem Töchterchen und brach den Zirbenzapfen auf. Da fiel ein Samen heraus, der auf einmal aufleuchtete und einen Lichtstrahl auf das Kind warf. Plötzlich war der Samen nicht mehr zu sehen und der König staunte sehr darüber.

Die Jahre vergingen und die drei Prinzessinnen wuchsen heran. An einem warmen Frühlingstag saßen sie im Burggarten und plauderten miteinander. Da sagte die Älteste: „Ich bin die Schönste von uns und werde darum bald Königin werden.“ Plötzlich sprang die zweitälteste Prinzessin auf und sagte wütend: „Nein, ich bin schöner!“ Da begann ein Streit unter den beiden, aber die jüngste Schwester sprach mild: „Vater hat mir vor Tagen gesagt, dass ich das schönste Mädchen im Land sei.“ Die älteste Schwester sagte schroff: „Ha! Du junges Ding! Das hat der Vater nur aus Mitleid zu dir gesagt!“ Weil der Streit nicht enden wollte, gingen sie zu ihrem Vater und fragten ihn, wer die Schönste von ihnen sei. Er antwortete aber nur: „Meine Töchter, ihr seid alle drei wunderschön! Hört doch auf zu streiten.“ Die Jüngste hätte sich damit zufriedengegeben, aber die beiden Älteren hörten nicht zu streiten auf.

Als ein paar Tage vergangen waren, wurde es dem König zu viel und er fragte einen seiner Berater, was er tun solle. Da antwortete ihm dieser: „Ein paar Stunden von hier entfernt liegt doch die Grotte der Antworten. Wer da hineingeht, kann eine Frage stellen und sie wird ihm beantwortet werden.“ „Das wird nichts bringen. Würde die Grotte sagen, dass eine die Schönste sei, wären die anderen Schwestern böse auf sie. Dann würde die Feindseligkeit weitergehen“, erwiderte der König besorgt. „Was sollen wir denn sonst machen? Und wenn die Grotte sagt, dass alle drei gleich schön wären, hätten wir wohl Ruhe.“ Der König verwarf die Idee und grübelte weiter. Da der Streit nach mehreren Tagen noch immer nicht endete, rief er seine drei Töchter zu sich und sprach: „Ein Berater hat mir gesagt, dass ihr in die Grotte der Antworten gehen solltet. Sie wird euch sagen, wer die Schönste von euch ist. Aber versprecht mir, dass die Zankerei dann aufhören muss, welche Antwort ihr auch immer bekommen werdet. Sonst sperre ich euch für ein Jahr lang in den Turm.“ Sie versprachen es und gingen in ihre Kammern. Die beiden älteren Prinzessinnen zogen sich ihre schönsten Kleider an, schminkten sich stark und ließen sich die Haare machen. Die jüngste Schwester kümmerte sich nur wenig um ihr Äußeres und hoffte bloß, dass der Streit bald zu Ende sein würde. Dann fuhr der Kutscher die Prinzessinnen zur Grotte der Antworten. Sie gingen hinein und die älteste Prinzessin fragte: „Welche von uns drei Schwestern ist die schönste?“ Da antwortete die Grotte:

„Edel bekleidet, schön geschminkt das Gesicht
und die Haarpracht wahrlich ein Gedicht!
Am schönsten die Erste und die Zweite sind,
tut mir leid für dich, du jüngstes Kind!“

Da sagte die Älteste zur Jüngsten: „Ha! Siehst du! Du bist nicht die Schönste von uns!“ Diese war recht traurig und sagte kein Wort. Der Streit unter den Prinzessinnen war aber zu Ende. Ein paar Monate später wollte ein Prinz aus einem anderen Land zur Burg der drei Prinzessinnen reiten. Unterwegs sah er eine große Schlange, wegen der sich sein Pferd aufbäumte. Der Prinz versuchte es zu beruhigen, stieg von ihm herunter, zog sein Schwert und tötete die Schlange. Da ertönte eine Stimme aus dem Wald, der neben ihm lag, die sprach: „Lass dich nicht von dem beirren, was du im ersten Augenblick siehst! Du fandest die Schlange angsteinflößend, aber du konntest sie leicht besiegen!“ Er erschrak darüber und verstand die Worte nicht.

Dann ritt er schnell zur Burg, wo die beiden älteren Prinzessinnen bereits auf ihn warteten und sich schön gemacht hatten. Als er sie sah, war er von der Schönheit der beiden beeindruckt. Dann kam die dritte Prinzessin, die sich bescheidener gab und ihn freundlich willkommen hieß. Ihm gefiel ihr Angesicht sehr, doch wusste er, dass es dreist wäre, nicht eine von den älteren Schwestern zu nehmen, da sie sich so schön gemacht hatten. Der König fragte den Prinzen, ob er sich denn vermählen wolle. Aber er sagte: „Lasst mir noch ein paar Tage Zeit zum Überlegen.“ Der König willigte ein und als der Prinz zufällig die drei Schwestern im Burggarten sitzen sah, ohne Schminke, Schmuck und Haarpracht, sah er, wie viel schöner die jüngste Prinzessin war. Da erinnerte er sich an die Sätze der Stimme, die er nahe dem Wald vernommen hatte. Nun verstand er, dass er sich nicht von äußerer Pracht beirren lassen sollte. Er verliebte sich in die jüngste Prinzessin und bat den König, sie ehelichen zu dürfen. Der sagte: „Ich würde sie dir geben. Aber eigentlich solltest du die Älteste nehmen, sie ist doch die Erstgeborene.“ Der Prinz bat aber weiter, bis der König nachgab. Als die beiden älteren Schwestern das erfuhren, wurden sie wütend und sprachen: „Die Grotte sagte aber, dass wir schöner seien.“ Der Prinz antwortete: „In all eurer Pracht seid ihr wahrlich schön. Aber ich liebe eure Schwester, das bescheidene Mädchen.“ Er heiratete die jüngste Prinzessin und die beiden lebten glücklich bis an ihr Ende.

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