Das Rätsel des Königs

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal ein König, der hatte eine schöne und ebenso stolze Tochter. Er wollte sie nur an einen Mann verheiraten, der so klug war, ein Rätsel zu lösen. Keiner der Prinzen der Nachbarländer und kein anderer Adelsmann war imstande, das Rätsel zu lösen. So erlaubte der König allen unverheirateten Männern in seinem Reich zum Schloss zu kommen, um die Antwort zu erraten. Er wollte nämlich einen klugen Nachfolger. Die Lösung kannten nur der König und seine drei höchsten Berater. Da der König und die Prinzessin weder im Schloss noch im Volk gemocht wurden und sehr herrschsüchtig waren, wollten die drei höchsten Berater den beiden eins auswischen. Sie sagten, dass sie dem nächsten Dummkopf, der ins Schloss komme, des Rätsels Lösung verraten.

Eines Tages ging ein junger Mann ins Schloss, den alle für dumm hielten. Als er im Schloss war, sahen ihn die drei höchsten Berater und merkten, dass er nicht besonders helle war. Einer von ihnen setzte sich einen Hut auf, der dessen Gesicht verdeckte. Dann ging er zum jungen Mann hin und sagte ihm die Lösung des Rätsels. Er müsse dem König aber erzählen, er wäre von selbst darauf gekommen. Als der Mann vor den König trat, stolperte er über den Teppich und brachte nur stotternd heraus: „Guten Tag, Eure Majestät!“ Der König war recht angewidert, wollte den Jungen es aber doch versuchen lassen. „Wenn du des Rätsels Lösung weißt“, sagte er, „wirst du König werden und meine Tochter zur Frau nehmen.“ „Ich habe es selbst herausgefunden!“, antwortete der junge Mann. „Ich habe dir ja das Rätsel noch nicht gesagt!“ „Oh ja … Nein, ich werde es selbst herausfinden!“ Der König blickte verdutzt und sprach: „Was hat viel Wasser im Sonnenuntergang, viel Holz im Sonnenaufgang, viel Steine im Mittag, wieder viel Holz um Mitternacht und einen steinigen Kopf?“ Der Mann überlegte ein Weilchen, weil er die Lösung wieder vergessen hatte, und sagte: „Oh … ich weiß es nicht mehr …“ „Wie? Du kanntest das Rätsel vorher doch gar nicht!“ „Natürlich nicht. Ich meinte, ich weiß es gerade nicht … Ah, jetzt fällt es mir ein! Der Rastberg nördlich der Stadt; das ist die Lösung.“ Da erschrak der König und sagte entsetzt: „Wie kannst du das wissen? Noch niemand hat es erraten!“ Einer der Berater sprach: „Ja, er hat es gewusst! Es ist der Rastberg. Der hat westlich von ihm, wo die Sonne untergeht, einen kleinen See, also viel Wasser. Mitternacht entspricht dem Norden, der Sonnenaufgang dem Osten des Berges. Da ist viel Holz wegen der dichten Wälder. Der Mittag entspricht dem südlichen Berghang, der sehr steinig und felsig ist. Genauso steinig ist der Kopf des Rastbergs, der Gipfel.“

Der König wollte diesem Mann jedoch nicht seinen Thron geben, aber er musste es nun tun. Da kam die Prinzessin in den Saal und der König stand von seinem Thron auf und ging zu ihr hin. Er sagte zu ihr: „Das hier wird dein Mann! Mein Nachfolger! Er hat des Rätsels Lösung erraten.“ Sie erschrak sehr und klagte: „Ach, Vater! Wie konnte er das nur erraten! Ich will diesen da nicht!“ „Kind, es muss sein! Wir werden sonst als Lügner dastehen. Du musst ihn heiraten. Er scheint weise und klug zu sein, wenn er das erraten hat.“ Schon bald darauf heirateten die beiden und der junge Mann wurde zum neuen König gekrönt. Doch der alte, abgedankte König merkte, wie dumm sein Schwiegersohn war. Auch die junge Königin war nicht zufrieden mit ihrem Ehemann. Darum wollten ihn die beiden wieder loswerden. Sie brauten einen giftigen Trank, den die Königin ihm in einem Becher überreichen sollte. Die höchsten Berater hatten davon erfahren und berichteten es dem jungen König, den sie sehr gern hatten. So dumm und ungeschickt er auch war, er hatte aber ein freundliches und liebevolles Wesen und war gütig.

Die junge Königin ging zu ihrem Mann, der gerade im Schlafzimmer saß. Sie überreichte ihm den Gifttrank und sagte ihm, dass er trinken solle. Dann verließ sie die Kammer. Aber da er zuvor von den drei Beratern gewarnt worden war, schüttete er den Trunk aus dem Fenster. Als die junge Königin den leeren Becher sah und bemerkte, dass ihrem Mann nichts fehlte, war sie sehr verwundert und erzählte das ihrem Vater. Der kam auch nicht aus dem Staunen heraus und sprach: „Er hat das Rätsel gelöst und kann ohne Schaden einen starken Gifttrank zu sich nehmen. Er muss wohl selbst ein Zauberer sein, der sich dumm stellt, oder er bekommt Hilfe durch ein Zauberwesen. Wir brauchen eine starke Hilfe. Uns kann nur die mächtige Hexe Gundula helfen.“

Die junge Königin und ihr Vater reisten zur besagten Hexe und baten sie um Hilfe. Diese lachte und sagte: „Ihr scheint ja verzweifelt zu sein, wenn ihr eine bitterböse Hexe um Hilfe fragt! Ich helfe eigentlich keinen Menschen, aber da ihr euch etwas Böses wünscht, will ich mal ein Auge zudrücken.“ Dann gab die Hexe dem Alten ein Ei. „Um Mitternacht wird daraus eine Schlange schlüpfen. Das erste Wesen, das sie sieht, wird sie töten.“

Im Schloss belauschten die Berater die beiden, weil sie das Ei gesehen hatten und wissen wollten, was es damit auf sich habe. Da erschraken sie, als sie hörten, was die Königin vorhatte. Sie wollte das Ei vor die Bettseite ihres Mannes legen. Einer der Berater erzählte das dem jungen König. Der nahm in der Nacht das Ei, das vor seiner Bettseite lag, um es aus seinem Fenster zu werfen. Aber er hatte die Zeit übersehen und es schlug Mitternacht. Da bekam das Ei schon Risse und vor Schreck warf er es ins Bett, in dem die Königin lag. Diese schrie sofort erschrocken auf und sprang aus dem Bett. Da sah sie im Mondlicht, wie die Schlange aus dem Ei schlüpfte und sie verfolgen wollte. Denn die Königin war der erste Mensch, den die Schlange gesehen hatte. Sie schrie aus vollem Hals und rannte aus dem Zimmer. „Zu Hilfe! Zu Hilfe! Eine Schlange verfolgt mich!“, brüllte sie ohne Ende. Da wusste ihr Vater, was passiert war, und eilte ihr zu Hilfe. Doch niemand von den Dienern konnte die Schlange einfangen. Die Königin lief in eine kleine Kammer und schloss die Tür fest zu. Die Schlange konnte nicht hinein, aber wartete vor der Tür auf sie. „Tut das ekelhafte Ding weg“, befahl der alte König. Aber die Schlange war so stark, dass ihr niemand etwas zuleide tun konnte.

Daher fuhr der Alte wieder zur Hexe und bat sie erneut um Hilfe. Da lachte die Böse auf und gab ihm eine hölzerne Bärenfigur. Sie sagte: „Um Mitternacht wird daraus ein echter großer Bär. Den ersten Menschen, den er sieht, wird er verschlingen. Danach frisst er auch die Schlange.“ Damit war er zufrieden und tat den kleinen Holzbären in die Kammer des jungen Königs. Doch die Berater hatten schon Verdacht geschöpft. Sie gingen danach auch in das Zimmer des jungen Königs. Dort fanden sie bald den Bären aus Holz. Sie nahmen ihn, gingen in die Kammer des Alten und versteckten ihn unter dessen Bett. Als es dann Mitternacht wurde, wurde aus dem kleinen Holzbären, der unter dem Bett stand, ein großer und lebendiger Bär aus Fleisch und Blut, der das Bett mit dem alten König umwarf. Als der Bär ihn sah, wollte er ihn fressen, doch er rannte schreiend davon und lief in eine kleine Kammer, in der er nun gefangen war, da der große, starke Bär sich nicht vertreiben ließ. Auch wenn man diesem und auch der Schlange etwas zu fressen gab, verließen sie ihren Platz nicht. Sie konnten auch nicht verhungern oder verdursten durch die Macht des Zaubers. Auch taten sie niemand anderem etwas zuleide, solange man sie in Ruhe ließ. So mussten die Königin und ihr Vater ihr Leben lang in den Kämmerchen verbringen und bekamen nur durch die sehr kleinen Fenster etwas zu essen. Das gefiel den Beratern sehr, sie berieten aber jederzeit den jungen König, der gerecht, gütig und friedvoll regierte.

© Anders Baumgartner. Alle Rechte vorbehalten.