Der rankende Efeu

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Der rankende Efeu

Es war einmal ein König, der hatte einen Sohn, der sich in eine einfache Magd verliebte, die in der Burg arbeitete. Das gefiel dem König ganz und gar nicht und er verlangte von seinem Sohn, eine Prinzessin zu heiraten. Doch dieser weigerte sich und sprach: „Mein Herz hat sich bereits entschieden. Es kann keine andere für mich geben.“ Da wurde der König so zornig, dass er die Magd wegschickte und bei einem Herzog arbeiten ließ, der einen Tag entfernt lebte. Zum Prinzen sagte er aber: „Du sollst von nun an die Burg nicht mehr verlassen, bis du die Prinzessin geheiratet hast!“

In der Burg des Herzogs aber, zu der die Dienstmagd geschickt wurde, wuchs in einer Ecke versteckt eine Efeupflanze. Die traurige Magd fing während ihrer Arbeit aus Liebeskummer zu weinen an und eilte in die Ecke, wo der Efeu wuchs, damit sie niemand sähe. Da weinte sie und sprach: „Wie grausam muss der König sein, dass er zwei Liebende trennt und ihnen das abspricht, wonach sich ihr Herz sehnt?“ Ihre Tränen benetzten aber einige Efeublätter. Dann wischte sie sich die Tränen aus den Augen und lief zu ihrer Arbeit zurück. In der Nacht aber, als der Mond so hell schien, begann der Efeu, dessen Blätter noch etwas feucht von den Tränen des Mädchens waren, in ungeahnter Art zu wachsen. Er rankte die Mauer hoch und seine Zweige wuchsen aus der Burg heraus. Die nächsten Tage breitete sich der Efeu stark aus und rankte in die Richtung der Königsburg.

Die Menschen versuchten, seine Zweige abzuschneiden, aber kein Messer und kein Schwert vermochte dies. Als die Triebe des Efeus bei der Königsburg ankamen, umrankten sie das Eingangstor und wuchsen zum Fenster des Prinzen empor. Der König verlangte von ein paar Dienern, die Zweige durchzutrennen, aber es gelang ihnen nicht. Da wurde er wütend und schrie: „Wie kann das sein, dass dieser Efeu nicht zerstört werden kann? Da steckt sicher eine Hexe dahinter!“ Ein Diener sprach zu ihm: „Wir haben erfahren, dass der Efeu seine Wurzeln in der Burg des Herzogs hat, in der die Geliebte des Prinzen arbeitet. Womöglich ist sie eine Hexe.“ Da ließ der König Soldaten aussenden, die das arme Mädchen gefangen nehmen sollten. In der Nacht kam aber ein Käfer aus dem Efeu heraus und flog zur Magd, als sie fest schlief. Der Käfer sagte ihr ins Ohr, dass sie unverzüglich fliehen müsse, da der König sie suche. Sie wachte auf und floh. Die Soldaten des Königs konnten das Mädchen am nächsten Tag nicht finden. Als sie die Burg des Herzogs wieder verlassen hatten, wuchs der Efeu nun auch in die Richtung, in der sich die Magd befand.

Die Soldaten kehrten zum König zurück und erzählten ihm, dass sie die Magd nicht finden konnten. Da geriet er in Wut und schrie: „Lasst sie im ganzen Land suchen!“ Die Magd war aber in ein Häuschen im tiefen Wald geflohen und der Efeu wuchs ihr hinterher. Während sie dort schlief, umrankte die Pflanze das ganze Häuschen, sodass niemand mehr hineinkonnte. Als Soldaten es fanden, wollten sie dort einbrechen, doch da der Efeu es so fest umschlungen hatte und er unzerstörbar war, gelang es ihnen nicht. Sie meldeten es dem König und er wurde noch zorniger. Da sagte ein Diener zu ihm: „Es gibt ein Schwert, das den Efeu bestimmt zerstören kann! Im hintersten Gebirge gibt es einen ganz besonderen Berg, von dem einige Zwerge Erz abbauen. Es ist aber kein gewöhnliches Erz. Aus ihm wird ein Schwert hergestellt, das selbst Zauberdinge zerstören kann!“ Dann befahl der König ein paar Dienern, die Zwerge aufzusuchen und ihnen solch ein Schwert abzukaufen.

Als drei Diener zu den Zwergen kamen, die im hintersten Bergland arbeiteten, boten sie ihnen jede Menge Gold und Edelsteine an. Doch diese sagten: „Gold und Edelsteine brauchen wir nicht. Wir sind wohlhabend genug. Wenn der König das Schwert haben will, so soll er es bekommen. Aber nur für ein Jahr. Dann soll es wieder uns gehören.“ Die drei Diener nahmen es und eilten zum König zurück. Doch als ein kräftiger Mann in der Königsburg Triebe des Efeus mit dem Schwert abschneiden wollte, schaffte er es nicht. Der König brüllte: „Nun taugt auch dieses Schwert nichts! Das darf doch nicht wahr sein!“ Sie versuchten es auch in der Burg des Herzogs und beim Häuschen im Wald, in dem die Magd nun lebte. Doch es half alles nichts. Da sagte ein Diener zum König: „Euer Hoheit! Vielleicht ist der Fluch erst dann zu Ende, wenn der Prinz und die Magd heiraten!“ Da schleuderte der König voll Zorn einen Krug gegen die Wand und brüllte: „Soll ich denn meinen Sohn mit einer Hexe verheiraten?“ „Vielleicht ist sie keine Hexe! Wenn sie eine wäre, würde sie dann die niedrigsten Arbeiten verrichten? Hätte sie nicht schon mit Zauberkraft Euren Sohn heimlich zu sich geholt?“, sagte der Diener. Doch der König wollte nicht hören.

So verging ein Jahr. Es kamen der goldene Herbst, dann der Winter mit seinem Schnee, der Frühling mit seinen Blüten und der Sommer mit den hohen Wiesen. Die Magd blieb in dem Häuschen, das so dicht von Efeu bewachsen war. Sie ernährte sich von den Beeren und Nüssen im Wald, von wildem Honig und den Fischen vom nahen Fluss. Von Zeit zu Zeit kamen Soldaten, um zu sehen, ob sie noch immer im Häuschen lebte. Durch den Efeu war sie aber stets geschützt und es konnte niemand hineingelangen. Nur sie konnte die Tür von außen und von innen öffnen, denn dann gaben die Ranken nach. Als das Jahr vorüber war und der König das Schwert den Zwergen noch immer nicht zurückgebracht hatte, erhob es sich plötzlich und eine Stimme ertönte aus ihm, die zum König sprach:

„Du hast mich nicht zurückgebracht,
hast daran überhaupt nicht gedacht!
Wolltest mit mir den Efeu schneiden,
der wächst, weil die Magd muss leiden,
die ganz und gar unschuldig ist
und die dein Sohn so vermisst!“

Da erschrak der König sehr und ließ die drei Diener das Schwert zurückbringen. Als sie dies taten, fragte der König seinen obersten Diener, der in der Burg blieb: „Glaubst du, war das wahr, was das Schwert sagte? Ist die Magd wohl unschuldig?“ Der antwortete: „Das Zauberschwert kann nicht lügen.“ Der König sprach: „Auch wenn sie keine Hexe ist, so ist sie doch nur eine Magd. Aber wenn der Efeu nur verschwindet, wenn mein Sohn und sie zusammen sind, so muss ich wohl einer Heirat zustimmen.“ Dann sagte er seinem Sohn, dass er die Magd ehelichen dürfe. Da freute sich der Prinz sehr und reiste zu seiner Geliebten. Als er dann endlich beim Häuschen ankam, in dem sie lebte, ging der Efeu plötzlich zurück und behinderte niemanden mehr. Die Magd sah durchs Fenster und erblickte den Prinzen, dem sie sofort aufmachte. Da freuten sie sich sehr und bald darauf wurde die Hochzeit gefeiert.

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