Es war einmal ein König, der hatte eine Tochter, die er über alles liebte. Er wusste aber nicht, welchem Mann er sie anvertrauen solle. Daher überlegte und grübelte er lange Zeit darüber. Denn hätte sie einen Prinzen aus einem anderen Land geheiratet, hätte er sich auch ihr Reich einverleibt. Und die wenigen Adeligen im Land waren meist zu alt oder mochte der König nicht. Eines Tages fuhren er und die Prinzessin mit der Kutsche zum Wald und blieben dort stehen. Die junge Königstochter sah eine Quelle im Wald und eilte dorthin, weil sie frisches Wasser trinken wollte. Ihr Vater rief noch: „Warte auf mich, mein Kind!“ Plötzlich tauchte aus dem Nichts eine Staubwolke bei der Quelle, wo die Prinzessin bereits stand, auf und verhüllte sie. „Was geht denn da vor sich?“, fragte der König besorgt und lief so schnell er konnte zur Wolke.
Da ging ein besonders heftiger Sturm von der Staubwolke los. Er war so stark, dass der König nicht mehr weiterkonnte und sich die Äste der Bäume stark bogen. Einige brachen auch ab und einer traf den König, der daraufhin stürzte. Er wurde bewusstlos und bald darauf verschwand die Staubwolke und der Sturm hörte auf. Der Kutscher erblickte den ohnmächtigen König und eilte zu ihm hin. Er versuchte ihn zu wecken, doch er blieb bewusstlos. So rannte er in die Kutsche und holte Wasser aus einem Behälter, da er der Quelle nicht traute. Er schüttete das Wasser auf das Gesicht des Königs, der daraufhin erwachte. „Was ist denn geschehen?“, fragte er schwach. „Ihr wurdet von einem Ast getroffen.“ „Meine Tochter … wo ist sie?“ „Ich weiß es nicht, Eure Majestät!“ Da sagte der König: „Ich muss zur Quelle gehen.“ „Nein, bleibt hier sitzen! Lasst mich dorthin gehen“, erwiderte der Kutscher und ging zur Quelle. Er konnte dort niemanden sehen und war verwundert. „Was ist dort?“, rief ihm der König erschöpft zu. „Gar nichts! Ich kann niemanden sehen!“
Da erschallte eine Stimme, die sprach:
„Willst du deine Tochter wiedersehen,
muss jemand auf dem Berg bestehen,
zwischen zwei Felsmauern eingebettet,
ist die Jungfrau in der Grotte angekettet.“
Da erschraken beide, als sie die laute Stimme vernahmen. Der König rief: „Lass meine Tochter frei; ich bitte dich!“ Doch es kam keine Antwort mehr. „Welche Grotte kann die Stimme gemeint haben?“, fragte der König. Der Kutscher antwortete: „Womöglich die Grotte nahe der großen Alm!“ Denn vor ihnen war ein hoher Berg, der recht bekannt war. „Und wie sollen wir meine Tochter befreien? Glaubst du, mir gelingt das?“ „Aber Eure Majestät! Wäre das denn nicht die Gelegenheit, einen Gemahl für Eure Tochter zu finden? Derjenige, der es schafft, sie zu befreien, darf sie heiraten!“ „Ja, das ist eine gute Idee! Denn ich alter Mann hätte es wohl gar nicht mehr vermocht, sie zu befreien!“ Daraufhin ließ der König verkünden, dass seine Tochter aus der Grotte im Berg befreit werden müsste. Es versuchten viele Männer, sie zu retten. Doch sie scheiterten alle, weil durch einen starken Zauber bösartige Tiere die Grotte verteidigten. Der König war sehr verzweifelt und trostlos.
Die Prinzessin blies Trübsal in ihrem Gefängnis. Der Zauberer, der sie gefangen genommen hatte, besuchte sie jeden Tag, um ihr Wasser und Brot zu geben. Sie sagte zu ihm eines Tages: „Lass mich doch wieder Tageslicht sehen! Kannst du mich denn nicht in einem Garten gefangen halten, das wäre mir lieber!“ Sie hatte sich nämlich erhofft, von dort aus leichter fliehen zu können. Er zögerte etwas, dann sprach er: „Nun gut, ich besitze einen Garten am Fuß des Berges, in dem könntest du bleiben!“ Daraufhin brachte er sie mit einem Zauber in seinen Garten, der von einer gewaltigen Hecke aus Tannen und Fichten umgeben war. In der Mitte der Anlage stand aber ein kleines Häuschen. Der Garten hatte keinen Zaun, denn die Hecke war so unglaublich dicht, dass die Prinzessin es nicht herausschaffte. Sie versuchte, zwischen den Stämmen und Ästen durchzukommen, aber es war ihr unmöglich, da sie verzaubert waren. Die jungen Männer wollten nach wie vor die Prinzessin aus der Grotte befreien, doch dort war sie nicht mehr. So hatte der böse Zauberer noch mehr davon, die Prinzessin in den Garten zu sperren, da die Freier ihren wahren Aufenthaltsort nicht wussten. Eines Tages bat aber ein recht junger Mann um Einlass in die Burg. Er hatte die Prinzessin befreit und sie war mit ihm mitgekommen. Wie freuten sich da der König und die ganze Burg! „Ich bin so froh, dass du es geschafft hast! Du darfst meine Tochter zur Frau nehmen!“, sagte der König zum jungen Mann. Bald darauf wurde die Hochzeit gefeiert und der junge Mann wurde zum König gekrönt und die Prinzessin zur Königin.
Kurze Zeit nach der Vermählung geschah Merkwürdiges in der Burg. Als eines Tages der junge König allein in seinem Zimmer war, hörte man ein Rauschen und Rumpeln. Die junge Königin saß im Burggarten und hörte, wie diese Geräusche durch das Fenster aus ihrem Zimmer kamen. „Merkwürdig“, sagte sie, „was macht er denn da?“ Sie ging zu ihm hinauf und klopfte an die Tür. Doch er rief: „Nicht jetzt, mein Schatz!“ „Was machst du denn?“, fragte sie. „Ein Vogel ist durchs Fenster hereingeflogen und ich muss ihn vertreiben.“ „Aber wieso ist da so ein Lärm?“ „Das ist der Vogel!“ Da wurde sie misstrauisch und öffnete die Tür. „Nein, warum machst du auf?“, rief er wutentbrannt. Sie sah aber, wie er vor einem großen Kessel stand, in dem etwas rauchte, das rumpelnde und zischende Geräusche von sich gab. „Komm schnell herein!“, rief er. Zögernd und mit weit geöffnetem Mund und großen Augen ging sie hinein. „Was braust du denn da?“, fragte sie, nachdem sie die Türe verschlossen hatte. „Du hast hier nichts zu suchen! Oder gar nichts mehr zu suchen! Du sollst mein erstes Opfer sein!“, schrie er. Dann sagte er:
„Werde nun zu Eis,
jetzt, wo es ist so heiß!“
Da begann sie plötzlich zu frösteln und sie spürte, wie ihre Füße eiskalt wurden. „Wieso tust du das?“, fragte sie voll Angst. Er antwortete: „Mir allein wird das Reich gehören! Wenn mein Zaubertrank im Kessel fertig sein wird, wird daraus ein großer Adler werden, der, wenn er über das Land fliegt, alle verzaubern wird. Dann muss jeder meinem Willen gehorchen!“ „Du bist ein Zauberer?“ „Ja, natürlich! Ein normaler Mensch hätte dich nicht einfach befreien können! Habe ich doch die undurchdringliche Hecke mit meinem sonderbaren Schwert zerstören können!“ Langsam vereisten ihr die Füße und daraufhin auch die Beine. „Bitte, verschone mich! Ich bin doch deine Gemahlin!“ „Das tut nichts zur Sache! Ich war schon Zauberer, bevor wir uns kannten, und werde dich deshalb nicht schonen.“ Sie wollte um Hilfe rufen, doch der Zauberer sagte:
„Schluss mit dem Geschrei,
das Gejammer sei vorbei!“
Da wurde sie stumm. Der Zauberer braute weiter seinen Trank und der Rauch zog aus dem Fenster heraus. Die Königin war bereits zur Hälfte vereist, da zog sie sich ihren Ring vom Finger und warf ihn in den Kessel, was der Zauberer durch den Qualm nicht merkte. Plötzlich sprach er:
„Adler, komme heraus,
fliege in die Höhen hinauf!
Verbreite meinen Willen dort,
worüber du fliegst an jedem Ort.
Lasse mir kein Dorf ja aus,
segle über jedes einzelne Haus.
Auch all die Felder und Wiesen
sollst du mit meinem Willen begießen!
Auf, auf! Komme heraus und fliege,
auf dass ich für immer siege!“
Da kam ein Adler aus dem Kessel und flog aus dem Fenster heraus. In jenem Augenblick war die Königin vollständig vereist. Da nahm der böse Zauberer einen Eisenhammer und wollte damit die Eisstatue seiner Frau zertrümmern. Doch plötzlich klopfte der Vater der Königin an die Tür. „Was raucht denn da in deinem Zimmer?“, fragte dieser. Der Zauberer erschrak und dachte sich: „Eigentlich hätte der Adler bereits eine Runde über die Burg machen und sie somit verzaubern sollen. Was ist da los?“ Doch da er keine Antwort gab, klopfte der Vater der Königin noch einmal. Aber der Zauberer überlegte, was er tun sollte. Plötzlich ging die Tür auf und der alte Mann warf einen Blick in die Kammer. „Brennt es bei dir?“ „Nein, verschwinde! Eure Zeit ist um!“, schrie der Zauberer wütend. „Wie redest du mit mir? Und was tust du da?“ Da erblickte er seine vereiste Tochter und erschrak. „Was hast du getan?“ „Ich muss dich zum Schweigen bringen; anscheinend ist der Zauber meines Adlers schiefgegangen!“ Er wollte ihn verzaubern, doch es rannte ein Diener der Burg hinein und rief: „Da ist ein Adler aus dieser Kammer herausgeflogen und beinahe abgestürzt! Und es raucht stärker als in einer Küche! Was geht hier vor sich?“ Da erschrak der Zauberer, rannte zum Fenster und blickte hinaus, ob er seinen Adler sehen könnte. Doch der Vater der Königin und der Diener eilten zum Tisch, auf dem der Kessel und mehrere Bücher lagen. Sie zerrissen die Bücher, aber der Zauberer hatte sich bereits umgedreht. „Na wartet! Das werdet ihr büßen!“ Doch der Diener warf mit aller Kraft den großen Kessel um, sodass das kochend heiße Wasser darin den Zauberer übergoss. Der schrie auf, aber war noch immer nicht besiegt.
Der Diener sah auf dem Tisch noch eine giftgrüne Flüssigkeit in einem Fläschchen. Er nahm sie und übergoss damit den pitschnassen Zauberer. „Nein! Nein!“, rief er, doch es war zu spät. Er verlor all seine Macht und wurde gefangen genommen. Der Vater der Königin war aber noch besorgt um seine Tochter; denn sie war noch immer ganz vereist. „Sollen wir sie in die Sonne stellen?“, fragte er. „Bloß nicht“, erwiderte der Diener, „wir brauchen etwas Geduld!“ Als der nächste Morgen graute, begann der Kopf der Königin wieder zu Fleisch zu werden. Nach und nach verschwand das Eis vom Körper, bis auch die Füße wieder wie früher waren. Da begann sie freudig ihren Vater zu rufen und der eilte herbei und umarmte sie. Sie wollte aber den Diener heiraten, der den Zauberer besiegt hatte. Dieser und ihr Vater waren sehr froh darüber und bald wurde die Hochzeit gefeiert. Der Ring, den die Königin in den Kessel geworfen hatte, hatte den Zauber des Adlers verhindert. Und so lebte das Paar glücklich bis an sein Ende.
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