Die Rose im Burggarten

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Die Rose im Burggarten

Es waren einmal zwei Könige, die waren eng befreundet. Ein jeder von ihnen hatte einen Sohn. Als sich die beiden Könige besuchten, freundeten sich auch die zwei jungen Prinzen miteinander an. So trafen sich die Familien ein paar Mal im Jahr. Als einer der Könige mit seinem Sohn zum anderen fahren wollte, um ihn zu besuchen, nahm er auch seine hochbetagte Mutter mit. Diese sprach: „Ich will noch einmal mit euch mitfahren. Das wird wohl meine letzte Reise sein. Aber ich nehme auch ein Geschenk mit.“ So fuhren der König, seine alte Mutter und sein Sohn zur Burg des anderen Königs.

Dort freuten sich dieser und sein Sohn sehr über den Besuch und empfingen sie freundlich. Als die beiden kleinen Prinzen wie üblich im schönen Burggarten spielten, ging die betagte Mutter des Königs zu ihnen und sagte zum Prinzen, zu dem sie gereist war: „Ich habe für dich ein Geschenk!“ Dann zeigte sie einen kleinen Rosenstrauch und sprach: „Lass diese Rose in den Burggarten pflanzen! Sie wird dir viel Freude bereiten!“ Der Prinz dachte sich: „Wir haben hier bereits Rosen, was sollen wir mit noch so einem Busch, der dazu noch sehr klein ist?“ Ein Diener pflanzte die Rose ein und pflegte sie. Nach drei Tagen reiste die Familie wieder ab und die Rose im Burggarten wuchs erstaunlich schnell. Es vergingen jedoch nur wenige Monate, da starb die alte Mutter des einen Königs.

Daher reisten der andere König und sein Sohn zu ihm. Als die beiden Prinzen dort im Garten der Burg saßen, sagte der eine, dem die alte Frau die Rose geschenkt hatte: „Das ist derselbe Busch, der in unserem Garten steht!“ „Ja“, antwortete der andere, „meine Großmutter hat von diesem einen Steckling genommen und das Pflänzlein, das daraus wuchs, dir geschenkt! Sie sagte, diese Rose ist eine ganz besondere und muss gut gehütet werden!“ „Warum denn?“, fragte der andere. „Ich weiß es nicht. Sie hat nur gesagt, dass ich darauf aufpassen soll!“ Nach zwei Tagen fuhren der König und sein Sohn wieder in ihre Burg zurück.

Es vergingen ein paar Monate, da entfachte ein arger Streit unter den beiden Königen. Dieser war aber so arg, dass sie sich schworen, sich nie wieder zu treffen. Doch den Söhnen war vorerst nichts erzählt worden. Nach einiger Zeit ging der Prinz, dem die alte Mutter des anderen Königs den Rosenbusch geschenkt hatte, zu seinem Vater und fragte ihn: „Warum treffen wir nicht mehr unsere lieben Freunde? Ich würde den Prinzen gerne wiedersehen.“ „Wir werden sie nicht mehr sehen! Diese Zeiten sind vorbei! Du geh lernen und rede nicht mehr darüber.“ Da wurde der Prinz sehr traurig und erwiderte: „Aber Vater! Wieso denn nicht? Was ist denn geschehen? Wir verstanden uns doch so gut!“ Der König wurde wütend und sagte: „Du sollst mir nicht widersprechen! Es hat einen großen Streit gegeben und wir haben uns geschworen, uns nie mehr zu treffen!“ Der Prinz sagte darauf nichts mehr und ging enttäuscht in seine Kammer.

Am nächsten Tag schien die Sonne und er dachte sich: „Ach, wie war es schön, als wir im Garten spielten. Aber jetzt können wir uns nicht mehr sehen.“ Da begann er zu weinen. Sein Diener riet ihm aber, in den Garten zu gehen, anstatt Trübsal zu blasen. Er erwiderte: „Das erinnert mich doch noch mehr an den Prinzen, mit dem ich dort so gern gespielt habe!“ Doch der Diener schaffte es tatsächlich, ihn zu überreden, und der Prinz ging in den Burggarten. Dort hörte er plötzlich eine Stimme, obwohl er keinen Menschen sah. Die Stimme sprach: „Prinz, komm zu mir! Hab doch Freude hier!“ Er sah sich um, aber erblickte niemanden. Als die Stimme noch einmal erklang, kam ihm vor, dass sie von den Rosen käme. Er ging zu ihnen, aber da vernahm er ein Gedicht:

„Sowohl die langen Rosen
als auch die fast rankenlosen,
auch die schon im Mai blühen,
aber sich wie mit Blei mühen,
haben einen kräftigen Dorn
wie bei einem deftigen Horn.
Doch geh ja nicht zu denen,
die musst zuerst du zähmen!
Komm doch nun zu mir her,
denn du erfährst hier mehr!“

Da merkte er, dass die Rose, die ihm die Mutter des anderen Königs geschenkt hatte, mit ihm sprach, und er freute sich. Er sagte zu ihr: „Was soll ich tun?“ Sie antwortete: „Ich werde dem Prinzen ausrichten, was du mir sagst, denn ich bin dafür da, dass du dich nicht mehr plagst!“ Da sprach er: „Ich würde gerne wissen, wie es ihm geht!“

In der anderen Burg aber rief die dortige Rose den Prinzen, der auch schon erfahren hatte, dass sein Vater sich mit dem anderen König verstritten hatte, worüber er sehr traurig war. Da erschrak der Prinz und war sehr verwundert. Aber die Rose sprach: „Prinz, schreck dich doch nicht, es erblasse nicht dein Gesicht! Der andere Prinz will dich fragen, wie es dir geht, sollst du sagen!“ Da verstand er, wieso seine Großmutter die Rose besonders liebte und dem anderen Prinzen auch eine schenkte. Daher sagte er zum Busch, dass er traurig sei, weil er seinen Freund nicht mehr sehen dürfe. Das übermittelte die Rose in der anderen Burg dem wartenden Prinzen, der sich sehr freute, etwas von seinem Freund zu erfahren.

Von da an redeten die beiden Prinzen mithilfe der Rosen miteinander und waren dadurch ein wenig getröstet. Doch der König, in dessen Burggarten die geschenkte Rose stand, merkte, dass sein Sohn sich zu viel im Garten aufhielt und das Lernen vernachlässigte. Daher rief er seinen Diener herbei und fragte ihn: „Sag, was tut mein Sohn so lange im Burggarten? Oft steht er selbst im Regen da unten. Was ist mit ihm los?“ „Ich weiß es nicht, Euer Hoheit!“, antwortete dieser. Da kam eine Bedienstete herbei und sagte dem König: „Euer Hoheit! Ich weiß, was Euer Sohn im Garten tut! Er spricht mit einer der Rosen!“ Da erwiderte der König zornig: „Was faselst du da? Der Prinz redet doch nicht mit den Blumen!“ „Nein, wirklich, Euer Hoheit! Ich habe es gesehen! Überzeugt Euch doch selbst!“

Da ging der König heimlich in den Garten und hörte tatsächlich seinen Sohn mit der Rose reden, die ihm antwortete und vom anderen Prinzen erzählte. Da geriet er in heftigen Zorn und sein Blick wurde derart grimmig, dass der anwesende Diener erschrak. Der König ging zu seinem Sohn und schrie: „Das machst du also im Burggarten! Du widersetzt dich meinem Willen? Na warte! Dein Rosenbusch wird vernichtet werden!“ Da erschrak der Prinz heftig, fiel weinend auf die Knie und bat seinen Vater um Milde. Doch der befahl dem Diener, den Busch sofort zu vernichten. Dieser nahm eine Axt und zerstörte die Rose. Der Prinz war bittertraurig, doch sein Vater sagte zu ihm: „Siehst du, das hast du jetzt davon! Auch du darfst dich mir nicht widersetzen! Und jetzt geh lernen!“ Der Prinz ging bestürzt in seine Kammer und weinte den ganzen Abend.

Am nächsten Tag dachte er sich aber: „Was ist, wenn sich noch ein Zweiglein erhalten hat und ich aus ihm einen Steckling machen kann?“ Dann schlich er sich heimlich in den Garten und sah tatsächlich noch einige kleine Zweige am Boden liegen. Er nahm einen, auf dem noch eine halbvertrocknete Rosenblüte war. Da sprach diese plötzlich: „Tu doch den Zweig schnell in die Erde, ich hab keine Angst vor Drohgebärde!“ So steckte er den Zweig hinein, aber an einer anderen Stelle, versteckt hinter weiteren Rosen. Als er den Zweig in die Erde gesteckt und ihn gegossen hatte, wuchs er beträchtlich und begann zu blühen. Da war der Prinz sehr verwundert und freute sich. Dabei vergaß er aber erneut auf die Zeit und der König sah, dass sein Sohn sich schon wieder nicht in seiner Kammer befand. Er ging daher wieder in den Garten, fand ihn aber nicht sofort. Als er dann hinter den anderen Rosen seinen Sohn sah, wie dieser mit seinem Busch sprach, da wurde er wieder zornig. Er schrie: „Was für einen ungehorsamen Sohn ich doch habe! Diener! Kommt her und vernichtet alle Rosenbüsche! Verbrennt sie!“ Da kamen zwei Diener und zerstörten alle Rosen und verbrannten sie. Der Prinz weinte und sprach zum König: „Vater, Eure Strenge ist gar zu groß! Ich habe Sehnsucht nach meinem guten Freund! Ihr wollt es mir aber verbieten, mit ihm auch nur zu sprechen!“ Der König sagte bloß: „Hinauf in deine Kammer! Dort bleibst du so lange, wie ich es will!“ Nur ein winziger Teil eines Zweigs mit einem fast vertrockneten Blättchen war vom kleinen Rosenbusch übrig geblieben. Als der König nicht hinsah, nahm ihn der Prinz und ging in seine Kammer. Er bat seinen Diener aber: „Sei doch so gut und hol mir etwas Erde aus dem Garten, den ich wohl einige Zeit nicht mehr sehen kann!“

Der Diener gehorchte und gab die Erde dem Prinzen. Dieser tat sie in einen kleinen Topf und stellte ihn ans Fenster. Dann steckte er das Zweiglein hinein und nachdem er es gegossen hatte, wuchs daraus tatsächlich ein kleiner Strauch mit Blüten. So konnte er weiterhin mit dem anderen Prinzen sprechen. Es vergingen aber ein paar Tage und als der König unten im Hof stand, blickte er zum Fenster des Prinzen hinauf und sah ihn dort stehen und mit der Rose reden. Da erzürnte er wieder und ließ die Pflanze im Topf verbrennen, bis nichts mehr von ihr übrig war. Er sagte zu seinem Sohn: „Du hast dich stets widersetzt und dich für deine Untat nicht entschuldigt. Daher werfe ich dich in den Kerker wie einen Verbrecher. Dort bleibst du so lange, bis du reumütig bist!“ Da wurde der arme Prinz in den finsteren Kerker geworfen.

Doch drei Tage später wuchs im Garten aus einem winzig kleinen Teil der Rosenwurzel, den man nicht mit freiem Auge sehen konnte, wieder ein kleiner Strauch mit Blüten. Als der König in den Garten ging, war er sehr überrascht, als er den Rosenbusch sah. Er wurde wütend und wollte ihn wieder verbrennen lassen, aber eine Blüte sprach: „Prinz, du bist mir der liebste Freund auf der Welt! Warum meldest du dich nicht mehr? Ich warte schon so lange auf eine Nachricht, aber ich höre nichts von dir! Mein Vater schimpft, ich soll den Garten verlassen, aber ich schleiche mich immer wieder herein, um etwas von dir zu hören! Wo bist du bloß? Würdest du nur meine Tränen sehen!“ Der König wusste, dass die Rose das sprach, was der andere Prinz erzählte.

Plötzlich bereute er seine Härte und schämte sich. Er ließ seinen Sohn aus dem Kerker holen und sagte: „Ich habe falsch gehandelt und war herzlos! Ich werde mich mit dem anderen König versöhnen.“ Da freute sich der Prinz sehr. Der König wollte sich nun mit dem anderen aussöhnen, doch dieser wollte vorerst nicht nachgeben. Erst nach eindringlichen Bitten seines Sohnes ließ sich auch er erweichen und die beiden Könige versöhnten sich schließlich. Bald konnten sich die Prinzen wiedersehen und freuten sich über alle Maßen darüber. Wenn sie aber getrennt waren, durften sie für eine kurze Zeit am Tag auch mithilfe ihrer Rosen miteinander sprechen.

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