Die sauren Pflaumen

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal eine Hexe, die war bekannt dafür, viel Schaden im Land durch Zaubereien anzurichten. Eines Tages ritt der junge König mit seinem Diener aus und hörte die Leute klagen, dass ein Teil der Ernte durch ein Gewitter, das die Hexe verursacht hatte, beschädigt worden war. Da wurde er wütend und ritt weiter. Als er auf einem einsamen Feld war, rief er die Hexe. Plötzlich erschien sie und fragte zornig: „Was willst du, König?“ „Hör auf mit deinen Zaubereien, du bringst nur Unheil!“, befahl der König streng. Da lachte die Hexe und sprach: „Und du glaubst, dass ich auf dich höre? Da sieht man wieder, wie dumm ihr Menschen seid! Selbst du, der König!“ Da sagte er wütend: „Ach, so beleidigst du mich? Ich bin der König und daher der Klügste im ganzen Land.“ „Mitnichten! Ich sage dir, es gibt einige im Volk, die sind klüger als du.“ „Woher willst du denn das wissen?“, fragte der König. „Lass uns doch überprüfen, wie klug du bist. In drei Tagen werde ich dir eine Aufgabe stellen und da sollst du es mir beweisen. Wenn du sie bestehst, werde ich in ein anderes Land gehen und ihr alle werdet Ruhe von mir haben. Aber wenn du verlierst, so darf ich weiterhin in deinem Land zaubern.“

Da wollte der junge König bereits einwilligen, doch der Diener, der ihn begleitete, sagte zu ihm: „Euer Hoheit! Sagt bloß nicht, dass Ihr das machen werdet! Sie ist sehr tückisch, vielleicht werdet Ihr verlieren, dann kann die Hexe machen, was sie will!“ Doch der König wurde ungehalten und erwiderte: „Sei still! Meinst du etwa, ich sei nicht klug genug, die Aufgabe zu lösen?“ Da schwieg der Diener, denn er hatte Angst, dem König sonst mangelnde Klugheit zu unterstellen. So sagte der junge Herrscher zur Hexe: „Nun gut! Lass uns das machen! Du wirst sehen, ich werde siegen!“ Die Hexe lachte und sprach: „Du wirst es schon sehen! In drei Tagen wirst du deine Klugheit beweisen müssen. Du kannst in der Burg bleiben, dort wirst du geprüft werden!“ Daraufhin verschwand die Hexe so plötzlich, wie sie erschienen war. Der König und sein Diener ritten zur Burg zurück.

Drei Tage später wartete der König gespannt auf die Hexe, doch sie kam nicht. Als er zu Tisch saß, brachte ihm ein Diener einen Korb mit zehn Pflaumen, die alle dieselbe Sorte waren. Der König wunderte sich, dass sie ihm serviert wurden, denn sie sahen nicht schön aus und hatten einen ungewöhnlichen Geruch. Weil er aber Pflaumen so liebte, nahm er sich eine und biss hinein. Diese war jedoch derart sauer, dass er sein Gesicht verzog und ihm fast übel wurde. Er sagte: „Pfui! Noch nie in meinem Leben habe ich etwas gegessen, das so abscheulich sauer war!“ Da kam der Diener und wollte den Korb wegtragen, doch der König sagte: „Nein! Lass den Korb stehen! Vielleicht schmecken die anderen ja besser!“ Als er aber von der zweiten Pflaume gekostet hatte, schmeckte er sofort, dass sie wieder viel zu sauer war. Er kostete jedoch auch all die anderen, bis er nach der zehnten Pflaume sagte: „Wie konnten alle nur derart sauer sein! Ich glaube, ich kann von nun an keine Pflaume mehr sehen! Weg mit ihnen!“ Der Diener brachte sie weg und der König ging in den Thronsaal. Die Hexe kam aber nicht, was ihn sehr verwunderte. Am nächsten Tag wollte er zu dem Feld reiten, auf dem er die Hexe getroffen hatte. Da erfuhr er von den Leuten, die gerade Früchte ernteten, dass diese furchtbar sauer schmeckten. Eine Bäuerin sagte: „Gestern noch hab ich einen Apfel probiert, der hat wundervoll geschmeckt. Aber heute habe ich einen Apfel gegessen, der war saurer als ich es bin, wenn mein Mann zu viel getrunken hat! Dann kostete ich noch drei andere, die waren genauso. Und die waren nicht vom selben Baum!“ Der König erschrak und dachte an die sauren Pflaumen vom Vortag.

Er ritt schnell weiter und als keiner mehr in der Nähe war, außer seinem Diener, rief er die Hexe. Da erschien sie plötzlich und er fragte: „Wo bist du gestern gewesen?“ „Ich habe nicht gesagt, dass ich komme! Aber ich habe dich geprüft und es hat sich herausgestellt, dass du dumm bist!“ „Wann hast du mich geprüft?“, fragte er verdutzt. „Na, die zehn Pflaumen! Die ließ ich dir kommen! Sie waren nicht schön und die meisten Könige hätten sie gar nicht gegessen! Du hast aber alle zehn probiert, obwohl du schon bei der ersten Pflaume gemerkt hast, dass sie abscheulich sauer schmeckt! Du hättest auch nur drei oder vier probieren können, aber du hast alle gekostet, obwohl sie schon gar nicht gut gerochen haben!“ „Das war ein übler Trick! Das hat nichts mit Klugheit oder Dummheit zu tun! Du hast dich auch nicht gezeigt!“, entgegnete der König. „Du kannst das sehen, wie du willst! Jedenfalls warst du so dumm, dich mit einer Hexe anzulegen! Wir sind durch und durch hinterlistig!“ „Warum schmecken jetzt aber auch die Früchte der Bauern so sauer?“, fragte der König. „Weil ich gewonnen habe, darf ich jetzt zaubern, wie ich will! Ich danke dir dafür!“ Nachdem sie das gesagt hatte, verschwand sie mit einem lauten Lachen.

Der König sagte: „Ich war dumm, weil ich mich darauf eingelassen habe! Sie war klüger als ich!“ Da sagte der Diener zu ihm: „Verzagt nicht, Hoheit! Wir werden schon eine andere Lösung finden, sie zu besiegen!“ Dann wollten die beiden zur Burg zurück. Sie ritten aber an einem Bauernhof vorbei, in dem lauter Apfelbäume waren, dicht behangen mit Früchten. Der König blieb kurz stehen und sagte: „Ach, wenn diese Äpfel nur gut schmecken würden!“ Da bemerkte er einen kleinen Jungen, der zwischen den Apfelbäumen ging. Der Kleine sah dort einen Stab am Boden liegen und sagte: „Der gehört bestimmt einer Hexe!“ Da war der König überrascht und erinnerte sich, dass, als er das erste Mal die Hexe sah, diese einen Stab bei sich hatte, bei dem zweiten Mal nicht. Daher ging er zu dem Jungen, sagte ihm, er brauche den Stab und nahm ihn sich.

Da sprach der Diener zum König: „Wollen wir doch die Hexe auch so sauer machen wie all das Obst!“ Der Diener nahm den Stab und versuchte ihn entzweizubrechen. Dieser ließ sich aber nicht ganz brechen und bekam nur einen Riss. Plötzlich erschien wieder die Hexe, allerdings entkräftet und mit sehr gebeugtem Rücken. Sie sprach: „Ihr Diebe! Da vergisst man seinen Stab und dann wird er gleich gestohlen. Aber so leicht zerstören kann man ihn nicht, denn ich bin eine mächtige Hexe! Ich habe noch genug Zauberkraft, ihn wieder zu reparieren und dadurch meine volle Macht wiederzubekommen! Denn der Riss in meinem Stab hat mich nur geschwächt, nicht besiegt! Gebt ihn mir sofort, sonst werdet ihr die schlimmste Strafe erhalten, die ihr euch nur vorstellen könnt!“ Aber der König entgegnete flink: „Oh nein! Zuerst mach alle Früchte wieder schmackhaft! Sonst bekommst du den Stab nicht!“ Da sagte die Hexe zornig: „Ohne meinen Stab kann ich so einen großen Zauber nicht rückgängig machen! Gebt mir den Stab, ich repariere ihn und dann kann ich den Zauber aufheben!“ „Nein! Jetzt habe ich gelernt, einer Hexe nicht mehr zu trauen!“, erwiderte der König. Darauf fragte sie schelmisch lächelnd: „Was willst du machen? Ich kann mir noch meinen Stab herzaubern, wenn ich will!“

Da sagte der König leise zum Diener: „Hau mit dem Stab auf den Baum, damit ein Apfel auf sie fällt!“ Es stand nämlich vor dem König und seinem Diener ein schöner mit Früchten überladener Apfelbaum, der sich auch gleich neben der Hexe befand. Der Diener schlug schnell mit dem Stab auf den Ast, der über der Hexe war. Doch diese konnte sich gar nicht so schnell besinnen. Da fielen gleich zwei große Äpfel auf ihren Kopf, worauf die geschwächte Hexe fast gestürzt wäre. Dann nahm der König einen Apfel und hielt ihn ihr an den Mund. Dabei biss sie hinein und ihr ekelte es vor dem starken, sauren Geschmack. Sie verlor aber durch ihren eigenen Zauber, mit dem sie die Früchte verwunschen hatte, den letzten Rest ihrer Macht. So konnte der Diener den Stab ganz entzweibrechen und wollte damit sichergehen, dass sie nicht mehr mit diesem zaubern könne. Sie jammerte und klagte, aber plötzlich wurden alle Früchte wieder schmackhaft. Da freuten sich alle und auch der junge König hatte gelernt, nicht mehr so leichtgläubig zu sein.

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