Es war einmal ein König, der wollte seinen Sohn mit einer Prinzessin verheiraten. Eines Tages kam aber eine wunderschöne, junge Frau in die Burg, um den König um etwas zu bitten. Der Prinz sah sie und sie gefiel ihm sehr. Daher sprach er zu seinem Vater: „Muss ich denn eine Prinzessin heiraten? Mir gefällt diese junge Frau so sehr.“ Der König sah, wie schön die Frau war und ließ sich überreden. Sie willigte auch sofort ein, den Prinzen zu heiraten und schon bald stand der Hochzeitstermin fest. Während der Trauung tat der Prinz den Ring über den Finger und plötzlich durchzuckte seinen Körper für einen Augenblick ein eigenartiges Gefühl. Dann war der Schauer wieder weg und er dachte nicht mehr daran. Er wurde zum König gekrönt und seine Frau zur Königin. In den nächsten Tagen war er aber sehr müde und wollte ständig schlafen. Wenn er auf dem Thron saß, kippte sein Kopf vor Müdigkeit immer wieder. Er gab sich alle Mühe, nicht einzuschlafen. Nur mitten in der Nacht war er hellwach und konnte kein Auge zumachen.
Er fragte seinen Vater, wie das sein konnte. „Als ich das Königsamt annahm, war ich auch so müde … na ja, nicht ganz so müde wie du … aber du wirst dich schon noch daran gewöhnen“, antwortete dieser. Doch die Müdigkeit des Prinzen blieb in den nächsten Wochen weiterhin bestehen. Nur in der Nacht war er hellwach. Seine Frau war aber nicht überrascht darüber und sagte: „So ein junger König hat viel zu tun und wird dadurch müde. Und in der Nacht weckt dich das laute Schnarchen so mancher Diener.“ Bald wollte der junge König mit dem Gefolge in seinem Wald jagen. Er dachte sich: „Vielleicht wird mich die Jagd wecken.“ Tatsächlich war er während der Jagd kein Bisschen müde, sondern hellwach wie eh und je. Im Wald erblickte er aber ein Reh, das über den König erschrak, der nun voller Lebenskraft war. Es rief: „Hoheit, tötet mich nicht! Ich werde Euch von Nutzen sein.“ Da war er sehr erstaunt und fragte: „Wie willst du mir von Nutzen sein? Du bist doch nur ein kleines Reh!“ „Nein, Hoheit! Ich bin keineswegs nutzlos! Mir ist es möglich, bis in Eure Burg zu sehen und dort Gefahr zu erblicken! So könnte ich Euch helfen! Lasst Ihr mich leben?“ „Ja, das werde ich!“ Da bedankte sich das Reh und lief davon. „Warte“, rief der König, „kannst du mir nicht sagen, wieso ich so müde bin?“ Doch es war bereits verschwunden. „Dann hat mich das blöde Tier angelogen.“ Er jagte aber weiter.
Als er wieder in der Burg war, konnte er sich allerdings nur schwer wachhalten. „Was ist denn bloß los?“, fragte er sich verärgert. „Es muss doch eine Ursache dafür geben!“ So ging er zu einem guten Zauberer, der in der Nähe der Burg in einer Hütte lebte. Dieser sprach: „Du trägst etwas bei dir, das dich schwächt. Mehr darf ich nicht sagen, sonst werde ich für immer stumm.“ Der junge König staunte und fragte: „Warum darfst du es nicht sagen?“ „Es gibt jemanden, der ist mächtiger als ich. Ich fühle, dass es mir verboten ist, mehr zu sagen.“ Überrascht kehrte der König in seine Burg zurück. „Was trage ich, das mich schwächt?“, fragte er sich. Er ging in seine Kammer und zog sich alle Kleider aus. „Ich bin noch immer so müde“, sprach er, „wo ich doch gar nichts mehr trage. Was kann es denn sein, was mich schläfrig macht?“ Dann zog er sich wieder an und wollte in den Thronsaal gehen. Dort saß die Königin stolz auf dem Thron und sagte zu ihrem Gemahl, als sie ihn erblickte: „Geliebter! Ich will dir helfen bei deinem anspruchsvollen Amt! Da du doch stets sehr müde bist, wollte ich dir bei deiner Arbeit helfen! Dein Vater hat es mir erlaubt.“ Der König war sehr erstaunt darüber, aber er sagte: „Meine liebste Gemahlin! Du bist wahrlich fleißig! Aber ich will nicht immerfort schläfrig sein, sondern mein Amt ausüben können. Ich werde schon bald herausfinden, was mich so erschöpft!“ „Das ist gut! Aber leg dich doch schlafen, du siehst sehr ermattet aus“, sagte sie.
Da er lieber seiner starken Müdigkeit nachgeben wollte, ging er in sein Zimmer, um zu schlafen. Er zog wie immer seinen Ehering vom Finger und legte sich ins Bett. Da merkte er, dass er nicht mehr müde war. „Wie kann das sein? Immer wenn ich im Bett liege, bin ich putzmunter! Liegt es denn am Bett? Nein, während der Jagd war ich auch hellwach!“ Da stand er auf und streifte den Ring auf den Finger. Auf einmal überfiel ihn wieder die starke Müdigkeit. „Jetzt kann ich wieder kaum aufrecht stehen, so müde bin ich. Was ist da bloß los?“ Er wollte sich wieder ins Bett legen und zog den Ring herunter. Da war er wieder hellwach. „Der Ring! Der Ring wird schuld sein! Immer wenn ich mich schlafen lege, nehm ich ihn herunter. Auch während der Jagd trug ich ihn nicht! Aber wieso macht er mich müde?“ Er ging zu seiner Gemahlin und sagte zu ihr: „Nun weiß ich, was mich so müde machte. Es war der Ring.“ „Du willst mir sagen, dass der Ehering, der uns beide verbindet, dich schläfrig und schwach macht? Willst du mir sagen, dass du mich nicht liebst?“, fragte sie traurig. „Nein, das wollte ich nicht sagen. Ich weiß nicht, warum ich wegen des Rings so müde werde. Doch nun kann ich wieder munter weiterregieren.“ „Gemahl, steck doch wieder den Ring an den Finger, denn es verletzt mich sehr, dass du ihn nicht trägst.“ „Ich kaufe uns zwei neue.“ „Ich will aber, dass du diesen trägst. Er ist der unserer Trauung.“ „Was soll ich nun machen? Ständig müde sein?“ „Dann suche doch wenigstens deinen Vater; seitdem du auf der Jagd warst, habe ich ihn nicht mehr gesehen.“ „Was? Wo ist er denn? Warum hast du mir davon nichts gesagt?“ „Weil du doch so müde warst“, entgegnete sie ihm.
Der junge König fragte seine Diener, wo sein Vater denn sei. Doch die sagten: „Wir haben es zwar nicht bemerkt, doch vermutlich ist er wieder ausgeritten. Abends wird er wieder zurückkommen.“ Aber er kam nicht. Am nächsten Tag machte sich der König bereits große Sorgen und ließ seinen Vater im ganzen Land suchen. Da kam die Königin, küsste ihren Gemahl und sagte: „Aber jetzt tu dir wieder den Ring auf den Finger. Damit beweist du mir, dass du mich liebst.“ Er tat es und wurde wieder müde. Sie überredete ihn dazu, sich ins Bett zu legen, aber den Ring auf dem Finger zu lassen. Er gehorchte aufgrund seiner Müdigkeit und schlief ein. Da lachte sie und sagte leise: „Jetzt wirst du immerfort schlafen! Dann kann ich über das Reich herrschen und es verderben!“ Sie ging in den Thronsaal und begann, böse Befehle zu erteilen. Der junge König schlief aber tief und fest und wurde durch keinen Lärm, den man am Tag hört, geweckt. Da kam plötzlich ein Vögelchen aus dem Wald, in dem der König gejagt hatte. Es flog durch das Fenster in das Schlafzimmer des Königs und setzte sich zu seinem rechten Ohr. Das Vögelchen zwitscherte und sang laut mit all seiner Kraft und weckte den schlafenden König. Dieser konnte die Augen kaum offenhalten und das Vöglein sang:
„Nimm den Ring herunter,
dann wirst du munter!
Schlaf jetzt nicht mehr,
fällt es dir auch schwer!
Die Königin eine Hexe ist,
deren Verzauberter du bist!
Zertrümmre den Ring,
auf dass es Rettung bring!“
Da zog der König schlaftrunken den Ring vom Finger und wurde wieder hellwach. „Woher bist du?“, fragte er das Vögelchen. „Das Reh hat mich geschickt.“ Dann flog es wieder fort. Der König zertrümmerte daraufhin den Ring und ging in den Thronsaal. Da stand sein Vater wieder da und er sah, dass dieser befahl, die junge Königin festzunehmen. Sie konnte sich nicht wehren und wurde in den Kerker geworfen. Als der Vater seinen Sohn erblickte, sprach er zu ihm: „Ach, wie bin ich froh, dass du da bist! Die Königin ist eine Hexe! Nun scheint aber endlich ihre Macht gebrochen zu sein! Als du auf der Jagd warst, hat sie mich in eine Kerkerzelle geführt und mich zu Stein verwandelt. Vor wenigen Minuten bin ich wieder Mensch geworden und habe mich dem Kerkermeister zu erkennen gegeben, der mich befreite! Welch ein Glück, dass ich es geschafft habe!“ „Vater, ich habe den Ehering zerbrochen und den Zauber beendet.“ Der junge König heiratete bald darauf eine andere Frau und die beiden lebten glücklich bis an ihr Ende.
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