Es war einmal ein Mädchen, das hatte keine Eltern mehr. Daher wurde es von entfernten Verwandten großgezogen, die es schlecht behandelten. Da entschloss es sich, eines Tages davonzulaufen. Es hatte von einer abgelegenen Almhütte in den Bergen gehört, in der ein gutherziger, alter Mann lebte. Dorthin wollte es fliehen, aber urplötzlich kam ein starker Herbststurm auf, der Kälte und Schnee mit sich brachte. Das Mädchen hatte sich auf dem Berg verirrt und stapfte durch den immer höher werdenden Schnee. Langsam wurde es auch dunkel, sodass es fast nichts mehr sehen konnte. Erschöpft vor Hunger und Anstrengung brach es zusammen und sah schon sein Ende kommen. Da stand plötzlich ein alter Mann vor dem Mädchen, der einen dicken Wintermantel trug. Er zog ihn aus und legte ihn dem Mädchen um. Dann sprach er: „Komm mit mir mit!“ Er nahm es an der Hand und führte es zu seiner Hütte, die gar nicht so weit entfernt lag. Drinnen setzte er es an den Kamin und gab ihm eine warme Suppe zu essen. Es bedankte sich herzlich und auf die Frage des alten Mannes, was es hier oben zu dieser Zeit mache, antwortete es: „Ich bin von zu Hause fortgelaufen, weil ich geschlagen und ständig ausgeschimpft wurde.“ Da sagte er: „Mein Kind, du kannst bei mir wohnen!“ Da freute es sich sehr und blieb von nun an bei dem alten Mann in der Almhütte. Das Mädchen hieß Karoline und war sehr fleißig und freundlich.
Die Monate vergingen und als es auf der Alm Sommer wurde, half Karoline dem Alten, die Schafe auf der Wiese zu hüten. Er besaß zehn Schafe, aber eines liebte er ganz besonders und sagte: „Was auch immer geschieht, gib auf dieses mehr Acht als auf die anderen.“ Da fragte Karoline verdutzt: „Warum denn? Dieses Schaf sieht nicht schöner, größer oder kräftiger aus als die anderen. Auch mehr Wolle trägt es nicht.“ „Es ist mir besonders ans Herz gewachsen. Würde es mit einem anderen Schaf vor einem Abhang stehen, so rette mir eher dieses vor dem Sturz, denn es ist mein liebstes.“ Das Mädchen versprach es ihm und hütete die Tiere. Bald merkte Karoline, dass sich das Lieblingsschaf des alten Mannes anders verhielt als die anderen. Auch war es anschmiegsamer, zutraulicher und aufmerksamer. Es vergingen ein paar Tage und der alte Mann wurde krank. Karoline kümmerte sich um ihn, doch er wurde immer schwächer und konnte bald nicht mehr sein Bett verlassen. Das Mädchen holte einen Arzt, der aber nichts mehr tun konnte.
Nachdem dieser wieder gegangen war, rief der alte Mann Karoline zu sich und sprach zu ihr mit gebrechlicher Stimme: „Ich bin alt und habe ein langes Leben gehabt. Du hast deines aber noch vor dir und wirst sehr glücklich werden. Ich will dir etwas schenken, und zwar mein liebstes Schaf. Nur du sollst es haben. Wenn ich tot bin, werden meine Verwandten kommen und alles, was ich besitze, mit sich nehmen. Mein liebstes Schaf sollst aber du besitzen.“ Karoline war jedoch sehr traurig und sagte: „Ich will aber, dass du lebst.“ „Mein Kind, meine Zeit ist gekommen. Das Schaf wird dir Glück bringen. Wenn es unruhig wird und laut blökt, dann musst du es melken und die Milch trinken. Du wirst dann sehen, was es dir bringt.“ Der alte Mann lebte noch ein paar Tage und Karoline pflegte ihn, bis er starb. Dann nahm sie das besondere Schaf und ging in das Tal hinunter, aber nicht in das Dorf, in dem sie aufgewachsen war. Sie bekam Arbeit bei einem reichen Herrn und der erlaubte ihr sogar, ihr Schaf in seinem Viehstall zu lassen. Denn sie war sehr schön, freundlich und gesittet, sodass sie schnell von vielen Menschen gemocht wurde.
Sie arbeitete ein paar Monate, da wurde das Schaf eines Tages plötzlich unruhig und blökte laut. Eine Schwester des reichen Herrn ärgerte sich sehr über den Lärm, als sie am Stall vorbeiging. Sie eilte zu ihrem Bruder und fragte ihn, ob man denn das Schaf nicht lieber schlachten sollte. Der rief aber Karoline und fragte sie: „Was ist denn mit deinem Schaf los? Das blökt derart laut und unaufhörlich und springt herum, als ob es verrückt wäre. Geh doch in den Stall und schau, was mit ihm los ist!“ Da erschrak das Mädchen und eilte in den Stall. Es sah das aufgeregte Schaf und molk es. Dann trank es die Milch, die besser als sonst schmeckte. Das Mädchen verstand aber nicht, wieso das Schaf so unruhig gewesen war.
Als Karoline am nächsten Morgen in ihrer Kammer erwachte, saß da ein Vögelchen mit leuchtenden Federn auf ihrem Kopf. Sie wollte es behutsam herunternehmen, doch das Vögelchen blieb auf ihrem Kopf, ohne sich zu rühren. Sie fragte: „Ach, Vögelchen, was tust du denn da oben?“ Da antwortete es:
„Geh doch schnell hinaus,
stell dich vor das Haus
und schäme dich nicht,
mach ein frohes Gesicht.“
Karoline stand auf, verließ das Haus und stellte sich vor die Eingangstüre. Da kam plötzlich eine prächtige Kutsche vorbeigefahren, in der der Prinz saß. Als er das Mädchen mit dem schönen Vögelchen auf dem Haupt erblickte, wusste er sofort, dass dies ein Zeichen sei. Er befahl seinem Kutscher anzuhalten, verließ den Wagen und ging zu Karoline. Da fragte er sie: „Guten Morgen! Wie kommt es, dass da so ein schönes Vögelchen auf deinem Haupt sitzt?“ Sie erschrak sehr und stammelte: „Ich … ich weiß es nicht. Als ich heute Morgen erwachte, saß es bereits auf meinem Kopf und wollte nicht mehr weg.“ Da sah er, dass es wirklich ein Zeichen war, und fragte sie, ob sie in seine Burg mitkommen möchte. Sie erschrak so sehr, dass sie in das Haus lief und sich in ihre Kammer einschloss. Der Prinz fragte aber den Hausherrn, wo das schöne Mädchen denn sei. Der sprach: „Ich weiß nicht, von wem Ihr sprecht. Meint Ihr eine meiner drei Töchter? Ich werde sie Euch zeigen.“ Da kamen die drei Töchter, doch der Prinz sagte: „Nein, keine von ihnen ist das Mädchen, das ich suche.“ Dann beschrieb er dem Hausherrn das Mädchen genauer. Dieser sagte darauf: „Wir haben nur ein Mädchen hier, das so aussieht. Aber das werdet Ihr nicht suchen, denn es ist nur eine Magd.“ Der Prinz bestand aber darauf, sie zu sehen, und der Hausherr zeigte ihm Karolines Kammer. Als der Prinz an ihre Türe klopfte und sie rief, hörte sie es, wollte aber aus Angst nicht aufmachen. Nach einer Weile sagte er traurig: „Nun, dann bist du doch nicht die Richtige.“ Da sprach das Vögelchen auf ihrem Kopf:
„Geh schnell hin zum Königssohn,
denn er wird sein dein großer Lohn,
das erste Glück wird er für dich sein,
weil du gemolken hast das Schäflein!“
Karoline eilte hinaus zur Kutsche, in die der Prinz bereits eingestiegen war, und sagte zu ihm: „Verzeiht, Eure Hoheit, dass ich Euch nicht aufmachte. Ich fand mich nicht würdig, auf Eure Burg zu kommen.“ „Dein Vögelchen mit dem leuchtenden Gefieder war mir ein Zeichen, dass du die Richtige für mich bist. Wenn du mich heiraten willst, so komm mit mir mit!“ Sie willigte ein, aber da dachte sie an ihr Schaf und sie bat den Prinzen, es mitnehmen zu dürfen. „Das soll uns jemand zur Burg bringen, da wird es ihm gut gehen“, sprach er. Karoline verabschiedete sich von ihrem Herrn und stieg in die Kutsche. Als sie in der Burg ankamen, flog das Vögelchen auf einmal davon und sagte:
„Weil du die Schafsmilch getrunken hast,
war ich heute bei dir so lang zu Gast.
Ich wünsche dir das Glück so sehr,
jetzt brauchst du mich nicht mehr.“
Am Abend brachte auch ein Knecht des reichen Herrn das Schaf in die Burg. Dort wurde es in einem Stall für die Nutztiere der Burg gehalten. Der Prinz wollte bald heiraten, aber die Hofleute waren nicht erfreut darüber, dass die einfache Magd Karoline seine Gemahlin werden würde. Einer der Hofleute war sogar so erzürnt, dass er plante, sie zu vergiften. Plötzlich begann ihr Schaf im Stall wild zu blöken und zu springen. Das wurde Karoline von einer Magd gemeldet. Daher ging sie schnell in den Stall und molk das Schaf. Nachdem sie die Milch getrunken hatte, ging sie wieder zurück. Da überreichte ihr der böse Hofmann einen Trunk, der vergiftet war. Sie nahm einen kräftigen Schluck, doch der konnte ihr nichts anhaben. Da sie nicht mehr davon trinken wollte, stellte sie den Becher auf einen Tisch in ihrer Kammer.
Bald darauf kam der Prinz zu ihr, um über die Hochzeit zu sprechen. Da er sehr durstig war, trank er den giftigen Trunk und fiel wie tot zu Boden. Karoline erschrak sehr und rief den Arzt. Doch der konnte nichts mehr tun und sagte nur: „Es ist wohl um ihn geschehen.“ Da blökte und hüpfte das Schaf wieder wie wild und die Magd berichtete das Karoline. Diese schöpfte nun Hoffnung und rannte in den Stall. Als sie das Schaf gemolken hatte und trinken wollte, fing das Tier zum ersten Mal zu sprechen an und sagte: „Nein, diesmal trinke nicht du die Milch, sondern gib sie dem Prinzen, denn in ihm ist noch ein wenig Leben. Trinkt er, so wird er es überstehen. Und der Hofmann, der dir den giftigen Trank gegeben hat, wollte dich umbringen. Lass ihn nicht entkommen.“ Karoline eilte zu ihrem Liebsten und flößte ihm die Milch ein. Da kehrte wieder Lebenskraft in ihn zurück. Der böse Hofmann wurde aber in den Kerker geworfen. Bald wurde die Hochzeit gefeiert und das Königspaar lebte glücklich bis an sein Ende.
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