Der starke Jonathan

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Vor langer, langer Zeit lebte ein junger Mann, der hieß Jonathan. Als er eines Tages durch den Wald ging, sah er einen umgestürzten Baum vor sich. „Ach“, klagte er, „wenn ich doch nur so stark wäre, ihn wegzutragen.“ Er musste einen langen Umweg nehmen, der zudem recht steil war und sehr abseits lag. Als er eine Weile gegangen war, fand er einen Bach, aus dem er trinken wollte, weil er so durstig war. Da ertönte plötzlich eine Stimme aus dem Bach, die sprach:

„Trinkst du Wasser von diesem Bach,
dann hast du viel Glück danach!“

Er war sehr verwundert und fragte: „Was für ein Glück?“

„Das suchst selbst dir aus,
nimm das Beste heraus!
Wähle zwischen Kraft,
die mehrt den Lebenssaft,
oder die edle Weisheit,
ganz ohne alle Eitelkeit,
oder grenzenlosen Mut,
aber sei dann auf der Hut!“

Jonathan überlegte kurz, dann sagte er: „Ich nehme die Kraft, die finde ich am wertvollsten!“ Dann trank er aus dem Bach heraus. Er ging weiter, merkte aber, dass er nicht kräftiger geworden war. Spätabends kam er in sein Haus zurück und legte sich schlafen. Als er am nächsten Tag etwas schleppen musste, spürte er, wie mühelos es ihm gelang. Da merkte er, dass ihm sein Wunsch erfüllt worden war. Er freute sich sehr darüber und konnte die schwersten Dinge tragen.

Zu dieser Zeit hatte die Königin des Landes einen Streit mit einem Ungeheuer. Sie wollte von diesem nämlich verlangen, dass es ihr schwere Steine zur Burg schleppe, weil sie einen neuen Turm errichten lassen wollte. Doch das Ungeheuer verlangte als Lohn einige Teile des Landes. Die Königin verweigerte ihm dies und sagte: „Du bekommst als Lohn ein paar Kühe zu fressen, das soll genügen!“ Das Ungeheuer wurde daraufhin so zornig, dass es einen großen Felsbrocken vom nahen Berg löste und ihn voll Wut auf die wichtigste Straße zur Hauptstadt warf. Es bebte und die Menschen waren sehr erschrocken. Dann rief das Ungeheuer: „Nun verlasse ich euer Land und komme nie wieder hierher!“ Die Menschen wussten aber nicht, wie sie den großen Felsbrocken fortschaffen sollten. Die Königin des Landes ließ verlautbaren, dass der, der es schaffen sollte, ihn wegzutragen, einen großen Lohn erhalten sollte. Da ging Jonathan zur Burg und sagte zur Königin: „Eure Majestät! Ich bin stark und kräftig; ich möchte den Felsbrocken wegtragen.“ Sie fragte mit lauter, schriller Stimme: „Und wo sind deine Helfer?“ „Ich brauche keine Helfer, ich bin stark genug“, antwortete Jonathan. „Ha! Du Jüngling willst es alleine schaffen? Das wird dir nicht gelingen! Weißt du, dass ich dir den Kopf abschlagen lasse, wenn du scheiterst?“, sprach sie laut. Doch Jonathan ließ sich nicht verunsichern und sagte: „Ich habe keine Angst, ich trau mir das zu!“ „Gut, dann beweise es mir!“ Ein Diener der Königin führte Jonathan zum Felsbrocken, der höher als drei Männer war. Als der starke Jüngling ihn erblickte, dachte er sich: „Es wird nicht einfach sein, aber ich glaube, ich schaffe es!“ Der Diener der Königin sagte: „Du wirst es bestimmt nicht schaffen. Schon gar nicht alleine. Morgen wird dir der Kopf abgeschlagen werden, da bin ich sicher.“

Da packte Jonathan den Felsbrocken, hob ihn mit Mühe und legte ihn auf die Wiese, die sich neben der Straße befand. Der Diener war ganz überrascht, eilte zur Königin und meldete ihr dies. Sie stand auf, ließ sich zum Felsbrocken fahren und war erstaunt, dass Jonathan es geschafft hatte. „Gute Arbeit“, sagte sie, „du hast es tatsächlich vollbracht.“ „Darf ich nun fragen, was mein Lohn sein wird?“, wollte Jonathan wissen. „Du wagst es, vorzeitig nach deinem Lohn zu fragen? Du wirst ihn schon bekommen. Aber freu dich nicht zu früh, ich verlange noch etwas von dir!“ „Was wünscht Ihr Euch denn?“, fragte er. „Ich will, dass du mir die größten Steine vom Steinbruch am Rand der Stadt zur Burg bringst. Es soll nämlich ein neuer Turm erbaut werden und du wärst mir sehr nützlich, wenn du die größten Steine hierherschleppen würdest. Du kannst mühelos einen Felsbrocken wegtragen, also kannst du das auch.“ Da war Jonathan entsetzt und sagte: „Eure Majestät, ich will Euch stets gehorchen. Aber das ist doch sehr viel Arbeit und Mühe. Wieso machen das denn nicht Zugtiere?“ Da wurde die Königin fuchsteufelswild und schrie: „Du wagst es, so mit mir zu reden? Ich bin die Königin, du mein Untertan! Wenn du es nicht machst, lass ich dir den Kopf abhacken!“ Da musste Jonathan gehorchen und schwere Steine in einen Karren legen und diesen dann ziehen. Er brauchte zwei Stunden vom Steinbruch bis zur Burg. Dabei litt er großen Durst, es floss ihm der Schweiß in Strömen vom Leib und abends fiel er vor lauter Müdigkeit wie betäubt ins Bett.

Zwei Wochen lang musste er diese harte Arbeit tun. Danach sprach die Königin zu ihm: „Gut gemacht. Aber jetzt verlange ich noch etwas von dir. Das wird dir ein Leichtes sein. Du sollst in den Wald hinter der Burg gehen. Da hat der Jäger den Zauberfasan gesichtet. Er soll auch eine Feder verloren haben, die der Jäger aber nicht mitgenommen hat. Weil er sich jetzt verletzt hat, sollst du sie finden und mir geben. Dann erhältst du deinen Lohn. Findest du sie aber nicht, verlierst du deinen Kopf!“ Da war Jonathan erschüttert und wurde sehr zornig auf die Königin. Widerwillig ging er in den Wald und schimpfte: „Die gibt mir nur Arbeit, Arbeit, Arbeit. Und wenn ich es nicht schaffe, soll ich geköpft werden. Könnte ich nur aus dem Burgwald entkommen, ohne dass mich jemand sieht! Ich wünschte, jemand würde die Königin Steine schleppen lassen!“ Da sah er plötzlich eine Feder auf dem Waldboden liegen, die in vielen Farben glänzte. Er wollte sie aufheben, doch er schaffte es nicht. „Warum kann ich diese Feder kaum halten?“, fragte er sich sehr verwundert.

Da erschien der Zauberfasan und sagte zu ihm: „Weil du dir Kraft und Stärke gewünscht hast. Für das Zarte und Federleichte hast du wenig Sinn. Und hättest du Weisheit gewählt, dann wärst du nicht so dumm gewesen, zur Königin zu gehen. Denn es ist bekannt, dass sie überaus bösartig und hinterhältig ist. Durch die Kraft musstest du hart arbeiten und hast keinen Lohn bekommen.“ Da war Jonathan beschämt und sprach: „Wie recht du doch hast. Aber woher weißt du das alles?“ „Ach, ich weiß gar viel. Aber weil du meine Feder berührt hast, darfst du dir etwas wünschen.“ Jonathan sagte bescheiden: „Ich weiß nicht, was ich mir wünschen soll. Ich hätte mich am Bach für Weisheit entscheiden können und tat es nicht. Nun sollte ich sie mir auch nicht wünschen, denn das habe ich nicht verdient.“ Der Fasan sprach: „Das ist wohl war. Du brauchst nicht stark und weise zu sein.“ Da lachte Jonathan: „Ich wünschte mir bloß, dass die alte Königin ein Zugtier werden würde und ein Würdiger an ihre Stelle käme!“ Der Fasan sagte: „Nun, so sei es! Das wäre nur gerecht! Der Wunsch wird dir erfüllt! Du aber geh nach Hause zurück und nutze deine Kraft, um anderen Menschen zu helfen!“ Jonathan lachte auf und ging nach Hause. Die Königin wurde aber eine Kuh, die schwere Lasten ziehen musste. Ihr Neffe konnte nun endlich König werden. Jonathan wurde bald angesehen, weil er vielen Menschen mit seiner Kraft half, und lebte sodann ein glückliches Leben.

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