Es war einmal ein Jüngling, der ritt durch einen dichten Wald. Auf einmal wurde es aber so finster darin, dass er umdrehen wollte. Plötzlich rief etwas aus einem Baumloch in einer Tanne: „Hilf mir! Hilf mir!“ Der Jüngling hörte es, stieg vom Pferd und suchte die Stelle, von der die Rufe zu hören waren. Da fand er das Baumloch und fragte: „Wer ist da? Kann ich helfen?“ „Ja“, antwortete die Stimme, „komm hierher und fasse mit deiner rechten Hand in das Loch!“ „Das werde ich tun; aber wer bist du?“ „Ich bin ein kleiner Wicht und bin gefangen genommen worden. Hilf mir, wenn du ein gutes Herz hast!“ Da streckte der Jüngling seine rechte Hand in das Baumloch. Plötzlich fasste sie jemand mit ungeheurer Macht und zog den Jüngling hinein. Dabei sprang ein sonderbar anmutendes Männlein aus dem Baum heraus und griff nach ein paar großen Pilzen. Es presste aus ihnen eine tintenartige, klebrige Flüssigkeit heraus und kleisterte damit den Eingang des Lochs zu. „Wieso bin ich nun hier drinnen?“, fragte der Jüngling verwundert. „Du wirst dich jetzt daran gewöhnen müssen. Denn du kommst hier nicht mehr frei!“, sagte das Männlein boshaft lachend. „Warum? Wieso tust du mir das an?“ „Ich verachte die Menschen und liebe es, ihnen Böses anzutun.“ „Du kannst mich hier nicht drinnen lassen! Ich verhungere und verdurste doch!“ „Nein, das wirst du nicht! Da drinnen wächst ein süßer Pilz, von dem kannst du dich ernähren! Und jetzt halt den Mund! Dein Gejammer bringt dir nichts!“ Dann verschwand das bösartige Männlein.
Es verging aber einige Zeit und der Jüngling blieb ein Gefangener im Baum. Er hatte nur den sonderbaren Pilz zu essen, der in der Dunkelheit im Inneren des Baumes wuchs und ein schwammiges Aussehen hatte. Der zuckersüße Pilz war das einzige, woran sich der arme Mann erfreuen konnte. Nachts leuchtete der Pilz auf und gab ein wenig Licht. Auch wuchs er ständig nach, so dass der Mann genug zu essen hatte. Eines Tages hörte er zum ersten Mal ein anderes Geräusch als das Zwitschern der Vögel. Plötzlich klopfte etwas an den Baum und es begann in diesem heftig zu beben. Der junge Mann erschrak sehr und wusste nicht, was da geschah. Plötzlich stürzte der Baum um und auch das Baumloch wurde zerrissen, sodass der Mann zum ersten Mal endlich wieder Tageslicht sah. Er wurde, weil der Zauber beendet war, wieder ganz groß und verließ den Baum. Dann sah er den Rücken eines Holzfällers und ging schnell weg. Wie freute er sich, endlich wieder Tageslicht zu sehen! Bald gelangte er in eine Lichtung und wollte Beeren pflücken. So süß sie auch waren, der Geschmack des Pilzes war noch süßer gewesen. „Das ist wohl das Einzige, das ich vermissen werde.“
Als er dann weiterging, stolperte er über einen Stein und wäre auf einen Baum vor ihm gefallen, doch er fiel durch ihn durch und stürzte erst danach auf den Boden. „Nanu? Wie ist denn das passiert?“, fragte er sich erstaunt. Er richtete sich auf und berührte den Baum, was ihm mühelos gelang. Dann schaffte er es aber auch, die Hand durch den Baum zu bewegen. „Wie kann das denn sein? Ich lebe doch noch?“, fragte er sich verdutzt. Ihm wurde bewusst, dass er durch Dinge, Bäume und Felsen gehen konnte. Er ging eine Stunde, dann erreichte er den Waldesrand und gelangte in ein kleines Dorf. Dort übernachtete er in einem Wirtshaus. Am nächsten Tag ging er in eine Stadt, in der ein weiser Mann lebte, der eine riesige Bibliothek hatte. Er fragte ihn: „Wisst Ihr, wieso ich durch Dinge gehen kann?“ Darauf antwortete der alte Mann: „Ja, du hast wohl von einem sonderbaren Pilz genascht, der einem Zauberwesen gehörte!“ „Ja, das ist wahr!“ „Jeder wird, solange er dich berührt, auch durch Objekte gehen können. Aber pass gut auf, falls die Wirkung einmal nachlassen sollte!“
In dieser Zeit erfuhr er, dass der König eine Aufgabe stellte. Dieser sprach: „Wer meinen jüngsten Sohn aus einer Grotte befreit, wird einen großen Lohn erhalten!“ Der Mann ging zum König und fragte: „Vielleicht wird es mir gelingen, Euren Sohn zu befreien!“ „Dazu bräuchte man schon Zauberkraft! Mein Sohn ist in einer Grotte gefangen, die sich in einer Schlucht befindet. Ich erkläre dir den Weg, aber wie du in die Grotte hineinkommen willst, weiß ich wahrlich nicht!“ Der junge Mann ging zur Schlucht und suchte dort ein Weilchen, bis er den mit einem Stein verschlossenen Eingang zur Grotte fand. „So komm ich nicht hinein, aber auf andere Weise schon!“ Daraufhin ging er durch die Felswand in die Grotte hinein. Es verwunderte ihn aber, dass er sich dabei recht schwertat. Als er in der Grotte angekommen war, erblickte er sogleich den jungen Prinzen. Da freute er sich und sagte zu ihm: „Habt keine Angst! Ich bin hier, um Euch zu befreien.“ Da freute sich der Prinz. „Ihr müsst mir Eure Hand geben und dann können wir hinaus!“, sagte der Mann. „Wie denn?“ „Das werdet Ihr schon sehen!“ Dann gab der Prinz ihm die Hand und sie gingen durch den Stein am Eingang hinaus.
Doch es fiel dem Mann sichtlich schwerer, durch den Felsen zu gehen und es bereitete ihnen durchaus etwas Mühe. Als sie vor der Grotte waren, bedankte sich der Prinz herzlich bei ihm. Sie gingen los und nach einer Stunde fiel dem Prinzen ein, dass er etwas in der Grotte vergessen hatte. Er sagte: „Ach, ich habe eine Kette in der Grotte liegen lassen. Sie gehörte meiner verstorbenen Mutter. Ich will die Kette haben!“ Da sagte der Mann: „Na, dann muss ich sie wohl holen!“ „Soll ich hierbleiben?“ „Nein, besser nicht. Ihr seid allein nicht sicher, Prinz!“ So gingen sie zurück und der Mann wollte durch die Felswand schreiten, doch es fiel ihm sehr schwer. Es dauerte recht lange, bis er in die Grotte gelangte. „Die Wirkung des Pilzes scheint nachzulassen! Ich muss mich beeilen!“ Er suchte schnell nach der Kette, aber in der Grotte war es recht düster; es hingen an der Decke nur ein paar Fackeln. Der junge Mann suchte eine Zeit lang, aber er fand die Kette nicht. Dann rief er hinter dem Stein am Eingang hinaus: „Prinz, hört Ihr mich?“ Da antwortete dieser: „Ich höre dich nur schlecht!“ „Wo habt Ihr die Kette gelassen?“ Doch der Prinz verstand es nicht. Dann wiederholte der Mann mehrmals einen Reim:
„Wo ist nun die Kette,
die der Prinz gern hätte?“
Da verstand der Königssohn es und rief: „In meinem Bettchen!“ Er schrie das so laut, dass es der Mann sofort vernahm und im Bett nach der Kette suchte. Dort fand er sie auch und er wollte wieder durch die Felswand hinausgehen. Doch er schaffte es nicht mehr und stieß sich seine Nase an. „Oh nein“, rief er, „nicht schon wieder! Nun bin ich wieder gefangen!“ Nach dem ersten Schrecken schrie er mehrmals hinaus: „Prinz, ich kann nicht mehr durch die Wände gehen!“ Als dieser das verstanden hatte, erschrak er sehr. „Ihr müsst allein nach Hause finden!“, rief der Mann. Der Prinz musste vorerst allein gehen, fand aber einen Wanderer, der ihn zur Königsburg führte. Der Mann in der Grotte war aber verzweifelt und sagte: „Nun bin ich schon wieder gefangen in Dunkelheit.“ Dann sprach er:
„Einst begleitete das Licht mich immerzu,
doch dann ließ mich Finsternis nicht in Ruh.
Nach einem Hoffnungsschimmer räkelnd,
aber wie ein Blatt ohne Wasser welkend,
brachte ich Armer zu so lange Zeit,
bis es doch nun endlich war soweit!
Doch für kurze Zeit währte das Glück,
vor mir liegt wieder ein hartes Stück.“
Zu essen bekam er durch eine winzig kleine Öffnung am Rand der Grotte. Das Essen brachte ihm ein sonderbares Tier, das er nicht erblickte. Es verging wieder einige Zeit, dann hörte er eines Tages ein Geräusch vor der Grotte. Da ging der Prinz in edlem Gewand durch die Felswand. Dieser stand nun plötzlich in der Grotte und sprach: „Jetzt bist du frei! Ich habe lange gebraucht, herauszufinden, dass du durch einen Zauberpilz durch Objekte gehen konntest. Als ich diesen Pilz gefunden hatte, aß ich ihn. Nun kann ich dich retten, wie du mich früher gerettet hast!“ Da freute sich der Mann über alle Maßen und er nahm die Kette des Prinzen und sie gingen gemeinsam hinaus. „Ich wollte dich da unbedingt herausholen, denn ich habe meinen Wohltäter nie vergessen können“, sagte der Prinz. Er belohnte den Mann überreichlich und die beiden lebten glücklich bis an ihr Ende.
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