Es war einmal ein reicher Geschäftsmann, der hatte eine Frau und eine Tochter. Sie lebten in einem Haus neben dem Wald. Eines Tages starb die Frau und der Geschäftsmann heiratete bald darauf wieder. Seine neue Frau war aber falsch und hinterlistig. Sie wollte ihrer Stieftochter auch nichts gönnen. Immer wenn das Mädchen mit seiner Stiefmutter allein im Haus war, weil sich der Vater in der Stadt um seine Geschäfte zu kümmern hatte, musste das Mädchen stets hart arbeiten. Eines Tages musste der Vater eine längere Geschäftsreise machen und erzählte das seiner Tochter. Diese wurde aber sehr traurig und hatte Angst, mit ihrer Stiefmutter wochenlang allein zu sein. Da das Mädchen untröstlich war, dachte sich der Vater etwas aus. Er besorgte sich eine weiße Taube. Immer wenn das Mädchen etwas von seinem Vater hören wollte, sollte es die Taube in die große Stadt fliegen lassen, in der er auf Geschäftsreise war. Die Taube würde bald wieder zurückkommen und dem Mädchen eine Nachricht überbringen. Darüber freute sich das Kind und der Geschäftsmann reiste bald darauf ab. Als er den Ort verlassen hatte, sagte die Stiefmutter dem Mädchen: „So, nun geh an die Arbeit! Jetzt gibt es viel zu tun für dich! Putze mein Schlafzimmer und auch die Küche!“ Das Mädchen musste gehorchen und ging an die Arbeit. Nach zwei Tagen war es dem Kind aber schon zu viel und es war sehr traurig. Da rief es der weißen Taube, die auf einem Baum vor dem Haus saß, zu:
„Täubchen, zu meinem Vater flieg, auf dass ich eine Nachricht krieg!“
Die Taube flog sofort los und nach zwei Tagen kam sie wieder zurück und berichtete dem Mädchen: „Deinem Vater geht es gut. Er sagt, er würde dir gerne etwas aus der Stadt mitbringen. Was wünschst du dir?“ Da überlegte das Mädchen kurz und sagte:
„Ich wünsche mir ein Spätzchen, welches mir sei ein Schätzchen.“
Die Taube flog wieder los und meldete das dem Geschäftsmann. Als dieser nach zwei Wochen wieder zurückkehrte, gab er dem Mädchen einen Spatzen in einem Käfig, ohne dass seine Frau es sah. Er musste aber bald wieder auf Geschäftsreise, diesmal in eine andere Stadt. Das Mädchen war tief betrübt und weinte sehr. Doch der Vater sagte: „Du hast doch jetzt den Spatzen und die Taube! Sei nicht traurig!“ Dann fuhr er fort und das Mädchen hatte wieder viel zu putzen. Dann sagte es zum Spatzen: „Friss alle Krümel und jeden Schmutz vom Boden, bis alles sauber ist!“ Der Spatz tat es und bald war alles sauber. Die Stiefmutter fand aber bald heraus, dass ein Spatz alle Arbeit machte. Sie wurde sehr wütend und suchte den versteckten Käfig, in dem der Spatz war. Als sie ihn gefunden hatte, warf sie ihn in den Fluss. Dann verlangte sie von ihrer Stieftochter, schwere Dinge zu schleppen. Das Mädchen war aber tief betrübt darüber und ging zur Taube, die im Baum vor dem Haus saß. Es sprach zu ihr:
„Täubchen, zu meinem Vater flieg, auf dass ich eine Nachricht krieg!“
Die Taube flog los und kehrte nach drei Tagen zurück und sagte: „Deinem Vater geht es gut. Du sollst dir wieder etwas wünschen.“ Da sagte das Mädchen:
„Ich wünsche mir ein Eselein, eins, das viel schleppt wär fein.“
Die Taube berichtete das dem Geschäftsmann. Der kam nach drei Wochen heim und brachte einen Esel mit. Seine Frau war darüber nicht erfreut, aber sagte nichts dazu. Der Geschäftsmann musste jedoch in jenem Jahr noch ein drittes Mal verreisen. Da wurde das Mädchen unglücklich und wollte seinen Vater nicht gehen lassen. Es sprach: „Bleib bei mir. Geh nicht fort! Diesmal wirklich nicht!“ Doch der Vater erwiderte: „Du hast die Taube und den Esel! Ich bin nach vier Wochen wieder da und bleibe den Rest des Jahres hier!“ Dann fuhr er weg und die Stiefmutter verlangte vom Mädchen, wieder schwere Sachen zu tragen. Es ließ aber alles den Esel schleppen. Das bemerkte bald auch die böse Stiefmutter, die eines Nachts in den Stall ging und den Esel vertrieb. Das Mädchen war untröstlich deswegen, doch die Stiefmutter befahl dem Kind, noch schwerere Dinge zu tragen. Als es der Taube im Baum zurief:
„Täubchen, zu meinem Vater flieg, auf dass ich eine Nachricht krieg!“,
hörte das die Stiefmutter und fasste einen Entschluss. Als die Taube nach vier Tagen zurückkehren wollte, warf die Stiefmutter einen Stein auf den Vogel, der ihn auch traf. Die Alte nahm die verletzte Taube und versteckte sie. Doch da sie ihr nicht traute, wollte sie sie bald schlachten und kochen. Aber der Geschäftsmann kam früher von seiner Reise zurück, da die Taube kein zweites Mal zu ihm geflogen war, um einen Wunsch des Mädchens bekannt zu geben. Denn er hatte sich Sorgen gemacht und kam gerade zu dem Zeitpunkt, als die Stiefmutter die Taube zubereiten wollte. Als er auf den Baum vor dem Haus sah, in dem sonst die Taube saß, war er verwundert, dass diese nicht da war. Da lief ihm das Mädchen freudig entgegen und sagte: „Vater, es ist so schön, dass du wieder da bist! Die Taube ist aber ausgeblieben und der Esel vertrieben worden!“ Da sprach er verwundert: „Was ist denn bloß los hier? Ich rede mit deiner Stiefmutter, vielleicht weiß sie, was los ist.“ Er wollte dann in die Küche gehen und öffnete die Tür. Da sah er eine Feder liegen und fragte: „Welchem Vogel gehört diese Feder?“ Da antwortete die Stiefmutter überrascht: „Die gehört einem Huhn, das bereite ich gleich zu.“ Dann wollte sie wissen, wieso er so früh heimgekommen war, aber er erblickte eine noch schönere Feder und fragte wieder: „Welchem Vogel gehört diese weiße Feder hier? Aber ganz bestimmt nicht einem Huhn!“ „Oh nein“, antwortete sie, „die ist von gestern, da aßen wir einen Gänsebraten.“ Er wusste aber, dass es Taubenfedern waren. Als er noch eine fand, fragte er: „Von welchem Vogel ist nun diese Feder hier?“ Da rief die Taube, die neben dem Ofen versteckt war:
„Alle drei gehören doch mir, die Frau wollt‘ mich essen hier!“
Da erschrak diese und wusste nichts zu sagen. Der Mann sah die verletzte Taube, nahm sie und fragte sie: „Was ist dir denn geschehen?“ Diese antwortete: „Deine Frau hat nach mir einen Stein geworfen. Den Spatzen warf sie in den Fluss und den Esel vertrieb sie. Und dein Kind musste stets hart arbeiten.“ Da wurde der Geschäftsmann sehr zornig und sagte zu seiner Frau: „Du hast mein Kind schlecht behandelt. Darum will ich, dass du uns verlässt.“ Diese war darüber so verärgert, dass sie die Taube packte und aus dem Fenster werfen wollte. Der Geschäftsmann entriss sie ihr aber und rettete so die Taube. Da veränderte diese auf einmal ihre Gestalt. Plötzlich stand eine junge Frau da, die sagte: „Endlich bin ich erlöst. Ich war in eine Taube verwandelt worden und konnte erst wieder meine menschliche Gestalt erhalten, wenn mich ein Mensch aus einer Gefahr errettet.“ Die junge Frau war aber eine sehr fleißige und freundliche Magd. Als der Geschäftsmann wieder verreisen musste, passte die gute Magd auf das Mädchen auf. Die böse Stiefmutter hatte aber das Haus verlassen und ließ sich nie wieder blicken.
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