Thomas mit dem Wundermantel

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal eine Prinzessin, die wollte keinen ihrer Freier heiraten, obwohl ihre Berater es wünschten. Die Eltern der Prinzessin waren nicht mehr am Leben und ohne Mann konnte sie nicht zur Königin gekrönt werden. Trotzdem weigerte sie sich, einen ihrer Freier zum Mann zu nehmen. Dies wurde bald im ganzen Land bekannt. In einem kleinen Dorf lebte ein junger Mann namens Thomas. Eines Tages fuhr eine edle Kutsche, in der die Prinzessin saß, an den Waldesrand dieses Dorfes. Dort machte die Prinzessin kurz Halt, um aus einem Brünnlein zu trinken, da sie so durstig war. Thomas war aber gerade in der Nähe dieses Brünnleins und hatte sich hinter dem Gebüsch versteckt. Dort erblickte er das schöne Gesicht der Prinzessin und verliebte sich in sie. Nachdem sie getrunken hatte, fuhr sie mit der Kutsche weiter.

Thomas war ein armer Mann und wusste, dass die Prinzessin nicht einmal einen Prinzen heiraten wollte. Aber er hatte solchen Liebeskummer. Da fiel ihm ein, dass mitten im tiefen Wald ein Männlein lebte, das zaubern konnte. Allerdings musste man es erst finden, was jedoch nicht so einfach war. Thomas hatte aber derart Liebeskummer, dass er dennoch versuchte, das Männlein im Wald zu finden. Er suchte und suchte, doch er fand es nicht. Er arbeitete weniger auf dem Feld, damit er umso länger im Wald suchen konnte. Dadurch geriet er in noch größere Armut und hatte nur mehr wenig zu essen. Er suchte drei Monate lang, bis er sich eines Tages verzweifelt unter eine Buche tief im Wald setzte. Da erschien ihm plötzlich das Männlein. Er freute sich sehr und sprach zum Männlein: „Ach, wie habe ich dich drei Monate lang gesucht!“ Da fragte es ihn: „Nun, wieso suchst du mich denn? Und das so lange?“ „Ich habe großen Kummer!“, antwortete er. „Welchen Kummer denn?“ „Ich bin unsterblich verliebt. Aber nicht in ein einfaches Mädchen. Sondern in die Prinzessin!“ „Du scherzt!“ „Oh nein! Das ist wahr!“ „Ja, aber wie soll ich dir denn nun helfen?“, fragte das Männlein verdutzt. „Lass sie sich in mich verlieben!“ „Das kann ich nicht! Du verlangst Dinge!“, erwiderte es. „Aber nur du kannst mir helfen!“ „Ich könnte dir einen Zaubermantel schenken. Wenn du ihn trägst, sobald du vor der Prinzessin stehst, wird sie sich in dich verlieben. Aber pass bloß auf! Sie muss die Erste sein, die dich im Mantel sieht. Es könnte sich sonst eine andere in dich verlieben und der Mantel wird dann völlig wertlos für dich. Und noch etwas: Du wirst nicht so einfach ins Schloss kommen. Nimm diese Nuss hier. Du musst sie, kurz bevor du in das Schloss gehst, knacken und dann essen. Bald darauf wirst du unsichtbar werden. Auch alles, was du berührst oder trägst, wird nicht mehr zu sehen sein. Aber nur für kurze Zeit. Höchstens eine Stunde. Vergiss das nicht!“ Thomas bedankte sich herzlich bei dem Männlein, nahm den Mantel und die Nuss und ging fort. Am nächsten Tag machte er sich auf zum Schloss.

Er war aber so neugierig, wie er in dem Mantel aussähe, weil dieser gar so schön war. So ging er zu einem Teich, probierte den Mantel an und blickte auf sein Spiegelbild im Wasser. Da hörte er plötzlich zwei Frauen hinter dem Gebüsch, die plaudernd daherkamen. Er zog sich in aller Eile den Mantel aus und rannte hinter das Dickicht, ließ aber vor Schreck den Mantel liegen. Da erblickten die Frauen den Mantel und staunten über dessen Schönheit. Sie wollten ihn mit sich nehmen, doch es begann ein Streit unter ihnen, wem er gehören sollte. Als sie so stritten, nahm er einen großen Stein und schleuderte ihn vom Dickicht aus in den Teich, dessen Wasser dann überschwappte und die streitenden Frauen nass machte. Diese ärgerten sich sehr und schrien vor Wut. Dann sagte er im Dickicht sitzend: „Lasst meinen Mantel hier! Ich bin ein Wassermann und überschwemme euch, wenn ihr ihn nicht hier liegen lässt und nicht sofort verschwindet!“ Da erschraken sie so sehr, dass sie den Mantel liegen ließen und davonliefen. Er war sehr froh darüber und ging wieder zu seinen Kleidern. Aber er erschrak sehr, als er die Nuss nicht mehr fand. Als er eine ganz in der Nähe entdeckte, war er sich nicht sicher, ob es die rechte Nuss war. Denn nicht weit davon entfernt lagen weitere, da dort ein großer Haselnussstrauch stand. Daher musste er gleich ein paar Nüsse mitnehmen.

Er setzte seine Reise fort. Da es aber ein weiter Weg zum Schloss war, musste er in einem Wirtshaus übernachten. Am nächsten Tag ging er weiter und nach einer Weile machte er in einem kleinen Wald Rast und schlief sogar ein. Da kam aber ein Wanderer, der am Schlafenden vorbeiging und auch den Mantel sah. Er nahm sich den Mantel und ging damit davon. Bald darauf flog auch ein Eichelhäher daher, der die Nüsse in der Hosentasche des schlafenden Thomas sah. Als er sich eine Nuss herausnahm, wachte Thomas auf. Aber der Eichelhäher flog schnell in die Buche. Thomas sah sofort, dass der Mantel nicht mehr da war, und erschrak heftig. „Wo ist mein Mantel hin?“, fragte er sich ganz besorgt und suchte. Da bekam der Eichelhäher Mitleid und rief von der Buche zu Thomas hinunter: „Du! Schreck dich nicht! Ich will dir helfen! Du suchst den Mantel, der dir während des Schlafs gestohlen wurde? Ein flinker Wanderer hat ihn sich genommen. Er ging Richtung Norden. Du kannst ihn noch einholen!“ Da sah Thomas, dass ein Eichelhäher sprach. Er rief zu ihm hinauf: „Wie kann ich dir nur danken?“ „Das hast du schon!“, lachte der Vogel, flog davon und vergrub die Nuss. Thomas ging sehr schnell weiter und holte den Wanderer bald ein. Dieser kehrte aber gerade in sein Haus zurück. Thomas versteckte sich hinter einem Baum und überlegte nun, was er tun sollte. Dann ging er leise zu einem Fenster und blickte durch dieses ins Haus hinein. Er sah, wie sich der Wanderer den Mantel anzog und sich im Spiegel betrachtete. Dann ging Thomas zur Tür und klopfte, rannte aber wieder zum Fenster zurück. Der Wanderer zog sich schnell den Mantel aus und öffnete die Tür. Thomas stieg durch das geöffnete Fenster ins Haus hinein und sah den Mantel liegen. Er nahm ihn und verließ das Haus wieder durch das Fenster.

Danach ging er schnell zum Schloss. Als er davorstand, knackte er die Nüsse und aß sie. Er merkte aber, dass er nicht unsichtbar wurde. Er sagte bestürzt: „Anscheinend habe ich die richtige Nuss unterwegs verloren.“ Er trat unglücklich seinen Heimweg an. „Alles umsonst!“, sagte er weinend und gelangte nach ein paar Stunden wieder in den Wald, wo der Eichelhäher eine seiner Nüsse gestohlen hatte. Der Eichelhäher sah den todunglücklichen Thomas und er tat ihm wieder leid. Da rief er ihm wieder von der Buche aus zu: „Ei! Was machst du für ein unglückliches Gesicht? Deine Miene ist ja schwer zu ertragen! Geh die paar Schritte gegen Osten, zum Waldrand. Da steht ein üppiger Haselnussstrauch. So etwas hab ich noch nie gesehen! Gräbt man die Nuss ein, so wächst daraus noch am gleichen Tag ein Strauch, an dem sogar Nüsse hängen!“ Dann flog der Vogel davon. Thomas war sehr verwundert darüber und glaubte, es sei ein Witz. Er ging aber hin und sah den schönsten Haselstrauch, den er je gesehen hatte. Er war über und über voll mit Früchten. Da wusste er, dass der Strauch von der Nuss sein musste, die er geschenkt bekommen hatte. Also sammelte er gleich ein paar. Nun wollte er aber ausprobieren, ob sie ihn wohl auch unsichtbar machen würden. Er knackte eine und aß sie. Daraufhin wurde er wirklich unsichtbar und konnte sich selbst nicht mehr sehen. Er ging wieder zum Schloss zurück und als er dort ankam, war es spätabends. Er knackte wieder eine Nuss, aß sie und man konnte ihn nicht mehr sehen. So ging er ins Schloss, ohne von den Wachen gesehen zu werden. Als er drinnen nach einer Weile wieder sichtbar wurde, zog er sich schnell den Mantel an. Dieser passte ihm aber nicht, bekam einen Riss und verlor dadurch seine Zauberwirkung. Plötzlich erblickte die Prinzessin Thomas, als er gerade versuchte, den Riss im Mantel zu verdecken. Dabei stellte er sich recht dumm an. Sie begann laut zu lachen und sagte: „Das ist ein lustiger Kerl! Wenn ich heiraten müsste, dann so einen Mann! Die Prinzen sind mir alle zu ernst!“ Da horchten die Berater auf und überredeten die Prinzessin, Thomas zu heiraten, da sie aufgrund seines schönen Mantels annahmen, dass er ein Edelmann sei. Tatsächlich verliebte sie sich in ihn und willigte ein, ihn zu heiraten. Man freute sich, dass sie nun doch heiraten wollte. Bald wurde die Hochzeit gefeiert und die beiden zu König und Königin gekrönt. Sie lebten glücklich bis an ihr Ende.

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