Es war einmal ein Mann, der ging im Wald spazieren. Als er so wanderte, stolperte er über eine Wurzel und trat dabei aus Versehen auf einen Strauch. Es war aber ein Seidelbaststrauch, der sehr giftig ist und der einer Hexe gehörte. Etwas später am selben Tag ging diese denselben Weg und sah den zertretenen Strauch und wurde darüber sehr wütend, da sie damit Gift braute. Sie wusste aber nicht, wer es getan hatte. Daher rief sie ihren Raben herbei, der es ihr sagte, denn er hatte es gesehen. Da schwor sie Rache und ging in die Richtung, in die der Mann gegangen war. Der Mann hieß Jakob und hatte eine Verlobte, die den Namen Katharina trug. Sie hatten sich ewige Liebe und Treue geschworen und waren unzertrennlich. Als die beiden in seinem Garten miteinander redeten, kam plötzlich eine schneeweiße Taube, die sprach: „Ihr zwei, die ihr euch so liebt, es für euch bald Gefahr gibt. Jakob, eine Hexe hasst dich sehr, sie kommt nun bald hierher.“
Dann verschwand die Taube. Das Paar bekam Angst und wusste nicht, was es tun sollte. Doch dann fiel Katharina etwas ein und sie sprach zu ihrem Geliebten: „Liebster, ich frage meine Tante. Sie ist sehr weise und kennt eine gute Zauberin.“ Sie gingen zu Katharinas Tante und baten um Rat. Diese sprach aber: „Als ich vorhin ein Schläfchen hielt, hatte ich einen Traum. Jakob muss fliehen, unverzüglich. Denn eine bösartige Hexe verfolgt ihn, weil er ihren Lieblingsstrauch im Wald zertreten hat. Der Junge soll zu meiner lieben Bekannten, einer guten Zauberin, fliehen. Sie kann ihm bestimmt helfen.“ Da sagte Katharina entschlossen: „Ich will mit ihm gehen!“ „Nein, du bleibst hier!“, erwiderte sie dem Mädchen und sagte zu Jakob: „Nimm mein Armband hier mit dir mit. Das gehört der Zauberin, zu der du gehen musst. Sie hat es mir geliehen, aber ich habe es nie zurückgebracht. Sie wird es sofort erkennen.“ Dann erzählte sie ihm, in welche Stadt er gehen müsse. Er ging eilig nach Hause, nahm Reiseproviant mit und verabschiedete sich von seiner Liebsten. Dann ging er fort und Katharina weinte bittere Tränen. Sie wurde von ihren Eltern auf den Rat der Tante aber in ihr Zimmer eingesperrt, denn sie hatten Angst, dass sie ihrem Geliebten folgen wollte. Vor ihr Fenster stellte der Vater einen großen Karren, damit sie nicht heraussteigen konnte. Als es dunkel geworden war, öffnete Katharina das Fenster und sah den Karren. Sie fragte sich: „Wie soll ich hier denn bloß rauskommen, wenn das Ding da steht?“ Auf dem Karren saß aber ein kleiner Kauz. Als sie ihn bemerkte, sagte sie zu ihm:
„Käuzchen klein,
sei doch so fein,
weck unser liebes Pferd,
dass es den Karren wegfährt!“
Das Käuzchen tat es, weckte das im Stall schlafende Pferd, ließ es raus und band ein Seil um das Tier und den Karren. Dann zog das Pferd den Karren weg und Katharina konnte aus dem Fenster steigen. Dann eilte sie davon. Bald kam aber auch schon die Hexe im Dorf an. Sie hatte eine sehr feine Nase, mit der sie die Fährte Jakobs aufspürte. Da sie bereits sehr müde war, legte sie sich aber unter einen Baum und schlief ein. Katharina wollte ihrem Geliebten nacheilen, doch die Müdigkeit überfiel auch sie derart, dass sie sich unter eine Eiche legte und einschlief. Am nächsten Morgen zog die Hexe eilig weiter; sie hatte Angst, seine Fährte zu verlieren. Auch Katharina wachte bald wieder auf und ging den Weg in die Stadt, in die Jakob gehen musste. Als Katharina um die Mittagszeit auf einer Wiese hinter einem Vogelbeerbaum Rast machte, sprach sie ganz wehmütig ein Gedicht:
„Mein Geliebter, ich folge dir,
denn ohne dich ist’s leer in mir.
Deine Augen schön wie vom Reh,
sind so klar wie der Alpenschnee.
Es ist, wenn deine Stimme erklingt,
wie wenn ein Vogel auf dem Berg singt.
Wie ist doch dein Gesicht schön,
dein Atem wie lieblicher Föhn.
Da dir die Hexe Rache schwört,
bin ich ganz und gar verstört,
darf dich nicht mehr sehn,
denn du musstest weggehn.“
Die Hexe war gerade ganz in der Nähe und hatte das Gedicht mit angehört. Da wusste sie sofort, dass Katharina die Geliebte des Gesuchten war. Sie ging zu ihr hin und fragte sie freundlich: „Mein liebes Mädchen, wohin gehst du?“ Katharina antwortete verschreckt: „Das darf ich nicht verraten. Ich sage nur so viel, dass ich meinen Geliebten suche.“ „Ist er dir denn davongelaufen?“ „Nein, er musste fliehen, weil ihm jemand Rache schwört. Man zwang mich, zu Hause zu bleiben, aber ich floh in der Nacht.“ „Was hat er denn verbrochen?“, fragte die Hexe weiter. „Ach, er hat den geliebten Strauch einer Frau zertreten. Nur deswegen soll er büßen. Ich leide großen Liebeskummer.“ Die Hexe blies Katharina nun an und diese fiel in einen tiefen Schlaf. Dann fragte die Hexe die Schlafende: „Sag mir, wo ist dein Geliebter?“ Dann antwortete Katharina im Schlaf: „Er ist auf dem Weg zu einer guten Zauberin.“ Als die Hexe sie genug befragt hatte, ließ sie sie wieder aufwachen und sagte zu ihr: „Du bist die Geliebte des Eindringlings, der mir meinen Seidelbaststrauch zertreten hat. Als Strafe werde ich dich in eine Eidechse verwandeln, die bald gefressen wird.“ Und als die Alte das gesagt hatte, war Katharina eine kleine Eidechse. Die Hexe lachte laut auf und ging weiter. Da Katharina nicht mehr zu Hause war, machten sich die Eltern und ihre Tante große Sorgen. Sie suchten und suchten, doch fanden sie nicht.
Die schneeweiße Taube setzte sich auf einen Ast des Vogelbeerbaumes, bei dem Katharina in eine Eidechse verwandelt worden war. Sorgsam behütete die Taube das kleine Tier. Wenn Gefahr drohte, warnte die Taube die Eidechse und diese verkroch sich dann in ein Erdloch. Jakob kam spätabends in der besagten Stadt an und fand die Zauberin in ihrem Haus am Waldesrand. Er zeigte ihr das Armband und sie freute sich sehr darüber. Dann sagte sie ihm: „Die Hexe von ihrem Vorhaben abzubringen ist kaum möglich, man müsste sie schon besiegen. Verbrenn Zweige von Seidelbaststräuchern, nimm dann die Asche davon und streu sie ihr in die Nase! Sie liebt den Strauch so sehr, dass sie den verbrannten Geruch davon nicht ertragen kann!“ Jakob bedankte sich und blieb die Nacht über bei ihr.
Am nächsten Tag nahm er Seidelbaststräucher und verbrannte deren Zweige. Die Asche tat er in ein Säckchen. Er trat den Heimweg an und bald darauf begegnete er der Hexe. Sie erkannte ihn sofort am Geruch und stellte ihn zur Rede: „Du hast meinen Seidelbaststrauch zertreten, du Verbrecher!“ Er erschrak und antwortete darauf: „Das war keine Absicht, ich bin gestürzt.“ „Das tut nichts zur Sache“, herrschte sie ihn an, „du musst dafür büßen! Deine Kleine hab ich bereits in eine Eidechse verwandelt. Sie ist schon von Tieren gefressen worden!“ Da wurde er starr vor Schreck und sein Herz tat so weh, dass er das Säckchen nahm und die Asche darin der bösen Hexe ins Gesicht streute. Da schrie sie auf und brüllte zornig: „Du Narr! Du hast mir Seidelbast verbrannt! Du bist ein Schurke!“ Daraufhin verschwand sie urplötzlich. Er war aber so bestürzt über den angeblichen Tod seiner Katharina, dass er ganz verzweifelt den Heimweg antrat und gar nicht froh über den Sieg über die Hexe war. Katharina hatte sich währenddessen wieder in einen Menschen zurückverwandelt, da die Hexe besiegt worden war. Die Taube sagte zu ihr: „Bleib bis dein Liebster kommt hier, dann siehst du, was geschieht dir.“
Da kam ein reicher Kaufmann aus der nächsten Stadt in seiner Kutsche an ihr vorbeigefahren. Er sah sie und verliebte sich in sie, ging zu ihr hin und wollte sie freien. Doch sie sprach: „Ich bin meinem Verlobten treu, was ich doch niemals bereu.“ Enttäuscht fuhr er weg. Nach einer Weile kam eine edlere Kutsche mit einem Grafen darin und der verliebte sich auch in die schöne Katharina. Als er sie freite, antwortete sie: „Ich bin meinem Verlobten treu, was ich doch niemals bereu.“ Enttäuscht fuhr er weg. Nach einer Weile kam eine ganz prächtige Kutsche vorbeigefahren, in der der Prinz saß. Auch er verliebte sich und freite sie. Doch auch bei ihm sprach die treue Katharina: „Ich bin meinem Verlobten treu, was ich doch niemals bereu.“ Da war er sehr erstaunt und sagte zu ihr: „Das muss ein ganz besonderer Mann sein, wenn du ihn mir vorziehst.“ Sie antwortete bescheiden: „Er hat mir mein Herz gestohlen, mein Herz hat mir Treue befohlen.“ Dann fuhr er traurig weg. Spätabends, als die Sonne fast ganz untergegangen war, kam ihr Geliebter daher. Als sie ihn in der Dämmerung sah, kamen ihr Freudentränen und sie lief auf ihn zu. Er freute sich aber umso mehr, da er sah, dass sie lebte, und sie umarmten sich innig. „Niemand ist wie du. Für mich bist du alles“, sagte sie voll Freude. Dann blickten die beiden auf den Vogelbeerbaum und sahen neben der schneeweißen Taube noch eine zweite sitzen. Die beiden Vögel liebkosten sich und sprachen im Chor: „Ihr beide sollt zusammenbleiben für immer, trennen sollt ihr euch wahrlich nimmer.“
© Anders Baumgartner. Alle Rechte vorbehalten.