Der Trockenheitszauber

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal ein junger Mann, der hatte einen Garten, in dem viele Bäume waren, die köstliche Früchte trugen. Als es an einigen Sommertagen regnete, dachte er sich: „Nicht, dass der Regen mir meine Ernte vernichtet!“ So ging er zu einer Zauberin, die im Wald wohnte und den Menschen freundlich gesinnt war. Er fragte sie: „Was kannst du tun, dass es zu regnen aufhört?“ Sie antwortete: „Das ist ein schwerer Zauber, das Wetter vermag ich kaum zu ändern … Es sei denn, du holst Erde von einem anderen Land. Wenn ich sie mit einem Zauber verstreue, wird es lange Zeit nicht mehr regnen.“ Dann sagte sie aber, dass so ein Zauber überaus gefährlich sei. Er wollte jedoch nicht hören und reiste über die Berge in das andere Land, von dem sie ihm erzählt hatte. Dort drückten ihn die Hitze und die Glut der Sonne. Er suchte eine Weile nach einer Quelle, die Wasser führte. Als er endlich eine fand, trank er daraus, bis er seinen Durst gestillt hatte. Dann suchte er auf den verdorrten Feldern nach Erde, tat sie in ein Säckchen und kehrte daraufhin nach Hause zurück. Er brachte die Erde der Zauberin, die sagte: „Gut finde ich es nicht, dass ich es tue. Aber wenn du es willst, werde ich unser Wetter verändern.“

Dann verstreute sie die Erde und sagte einen langen Zauberspruch. Daraufhin verschwanden bald die Wolken, die Schatten über das Tal warfen, und die Sonne kam zum Vorschein. Der junge Mann freute sich sehr und ging nach Hause. Der Zauber hörte aber nicht mehr auf. Es war sehr heiß und die Sonne schien stets am ewig blauen Himmel. Bald verdorrten die Wiesen und die Böden bildeten Risse. So manche Pflanze vertrocknete und das Wasser wurde knapp. Als der junge Mann eines Tages in seinen Garten ging, sah er, dass seine Bäume unter der Trockenheit litten. „Wenn das so weitergeht“, dachte er sich, „werden die Früchte zu klein oder vertrocknen.“

Als es nach ein paar Tagen noch immer nicht regnete, ging er zur Zauberin im Wald und fragte sie, wann es denn wieder regnen würde. „Woher soll ich das wissen? Du wolltest doch Sonne und Trockenheit, beschwere dich nicht darüber“, antwortete sie. „Aber das geht nun schon zu lange. Das Wasser wird knapp und meine Obstbäume leiden auch schon sehr“, entgegnete er. Sie sagte: „Der Zauber hat mir viel Kraft gekostet und ich muss mich noch schonen, damit ich wieder meine ganze Macht habe, um das rückgängig zu machen. Für den Zauber brauche ich das Wasser vom Lebensbach. Der ist aber dabei, auszutrocknen.“ „Wann hast du deine ganze Macht wieder?“, fragte er. „Das kann noch gut einige Tage dauern. Dann wird der Lebensbach aber wohl kein Wasser mehr führen und ich kann den Trockenheitszauber nicht beenden. Wir können nur hoffen, dass er bald von selbst aufhört.“

Der junge Mann war bekümmert und fühlte sich schuldig, weil das halbe Land unter Trockenheit litt. Dann sprach sie: „Geh doch zum Lebensbach, der in den höheren Lagen fließt. Er führt gerade noch etwas Wasser. Wenn du es in ein dunkles Gefäß tust, das sich verschließen lässt, kannst du es mir bringen. Dann warte ich, bis ich wieder genug Macht habe, und hebe den Zauber auf.“ Er gehorchte und wanderte zum Lebensbach. Der führte tatsächlich nur mehr wenig Wasser. Er bückte sich und füllte das Gefäß mit dem kühlen Nass. Dann ging er wieder ins Tal zurück. Noch bevor er zur Zauberin gehen wollte, eilte er nach Hause, um etwas zu essen, weil er sich nach der Wanderung stärken wollte.

Da kam sein Bruder zu Besuch und als dieser das Gefäß mit dem Wasser sah, nahm er es und trank daraus. Da schrie der junge Mann: „Halt! Trink nicht daraus!“ Sein Bruder fragte ihn erschrocken: „Das wird wohl nicht vergiftet sein?“ „Nein, ich habe das Wasser vom Lebensbach geholt. Es ist sehr kostbar.“ „Ja, jetzt ist Wasser wahrlich kostbar!“, sagte der Bruder und ging nach Hause. Der junge Mann sah, dass im Gefäß kein Tropfen Wasser mehr übrig war. „Dann muss ich morgen wieder hinaufgehen“, klagte er, „und das, wo es so wenig Wasser unterwegs zu trinken gibt.“ Am nächsten Tag ging er wieder hinauf zum Lebensbach und füllte das Gefäß auf. Auf dem Rückweg stolperte er aus Unachtsamkeit über einen Stein. Da fiel ihm das Gefäß aus der Tasche und es zerschellte am Boden. „Das darf doch nicht wahr sein“, schimpfte er voll Ärger, „jetzt muss ich wieder hinauf!“ Er beschloss, nach Hause zu gehen, dort ein Gefäß zu holen und am selben Tag noch einmal zum Lebensbach zu wandern. So machte er es und füllte das Gefäß mit dem Wasser des Bachs.

Auf dem Rückweg ging er ganz vorsichtig ins Tal. Als er aber nicht mehr weit vom Wald der Zauberin entfernt war, fühlte er sich schon sehr schwach. Er hatte zu wenig getrunken während der langen Wanderung und die Hitze war an diesem Tag besonders schlimm. Da wurde ihm vor Schwäche schwarz vor Augen und er stürzte zu Boden. Auch das Gefäß polterte aus der Tasche und zersprang wieder. Als er sich aufrichten wollte, sah er, was mit dem Gefäß geschehen war. Da ärgerte er sich sehr darüber. Plötzlich hörte er lautes Donnergrollen. Da blickte er um sich und sah schwarze Wolken im Westen hinter dem Wald, die er vorhin nicht bemerkt hatte. Bald darauf begann es heftig zu regnen und er suchte Unterschlupf im Gebüsch. Er freute sich so sehr, dass es regnete, obwohl er ganz umsonst die beschwerlichen Wanderungen gemacht hatte. Der Zauber war nun zu Ende. Die Bäche und Flüsse führten bald wieder genug Wasser, die Wiesen wurden wieder grün und die Blumen blühten üppig. Nur die Früchte im Garten des jungen Mannes hatten viel Schaden erlitten durch die Trockenheit. „Ja, das ist meine Strafe für meine Dummheit“, sagte er sich, „aber wenigstens habe ich daraus gelernt.“ Dann reimte er:

„Ich geh nicht dorthin, wo die Bäume stehn,
deren Früchte angeblich golden aussehn,
wo die so harten Sonnenstrahlen
all die vielen Wiesen verkahlen.
So froh bin ich über unser Grün
und dass all die Blumen blühn.“

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