Das Tuch in der Truhe

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Das Tuch in der Truhe

Es war einmal ein junger Mann namens Alfred, der lebte mit seinem Vater in einem bescheidenen Holzhäuschen. Viele Bewohner des Dorfes fanden Alfred unansehnlich und lachten über ihn, daher lebte er zurückgezogen und hielt sich wenig unter Menschen auf. Eines Tages bat ihn sein Vater, ihm im Dachboden nach einem alten Buch suchen zu helfen. Sein Sohn kam sogleich und begann zu suchen. Nach einiger Zeit fand er eine Truhe, die er öffnete. Da sagte der Vater: „Ach! Das hab ich ja ganz vergessen!“ In der Truhe befand sich aber ein großes Tuch, das herrlich aussah und aus roter Seide war, und Alfred sprach: „Ich habe nicht gewusst, dass du so ein schönes Tuch besitzt! Das muss kostbar sein!“ „Tu es sofort wieder hinein! Nicht, dass es uns gefährlich wird!“, befahl der Vater streng. Der Sohn gehorchte, fragte aber: „Warum soll uns ein Tuch gefährlich werden? Ist es denn gestohlen?“ „Es hat einer Hexe gehört. Mein Vater hat es geschafft, es ihr zu stehlen, ohne dass sie es merkte. Er hatte sich erhofft, mit ihm etwas verzaubern zu können, doch es gelang ihm nicht. Dabei war es bekannt, dass die Tücher der Hexe Zaubermacht besitzen. Vor etlichen Jahren hat er es in dieser Truhe versteckt“, antwortete der Vater. Alfred sagte: „Ach, ist das schade! Wie schön wäre es, damit zu zaubern!“ „Und gefährlich! Wer weiß, was da passieren würde. Ja, dein Großvater war sehr leichtsinnig, als er jung war! Also Finger weg vom Tuch!“ Die beiden suchten noch ein Weilchen im vollgeräumten Dachboden, bis der Vater das Buch schließlich fand.

In der Nacht, als der Vater fest schlief, ging Alfred ganz leise in den Dachboden und öffnete wieder die Truhe. Er betrachtete das Tuch und dachte sich: „Wie gerne wüsste ich, was es zaubern könnte! Vielleicht würde es mich ansehnlicher machen!“ Er träumte vor sich hin, bis der Morgen graute und die Kirchenglocken zu läuten begannen. Da erschrak er, legte das Tuch zurück in die Truhe und verließ den Dachboden. Durch das Glockengeläut kam er auf die Idee, das nahe Kloster aufzusuchen, um dort die Mönche zu fragen, ob sie etwas über das Hexentuch wüssten. Er dachte sich: „Wenn sie gegen dunkle Mächte sprechen, wissen sie vielleicht auch, was diese bewirken können und welche Macht ihre Objekte haben.“

Dann erzählte er seinem Vater, dass er eine Wanderung machen wolle, und nahm das Tuch heimlich mit. Im Kloster zeigte er zwei Mönchen das kostbare Ding, die darüber erschraken und ein Kreuzzeichen machten. Da sagte einer zum anderen leise: „Du, das könnten wir gut gebrauchen. Wenn das wirklich einer Hexe gehört, dann wird es wohl auch Zaubermacht haben. Nehmen wir es und erzählen den anderen im Kloster nichts davon.“ Der andere Mönch willigte ein und sprach zu Alfred: „Gib uns das Tuch, wir werden es uns ansehen und schon herausfinden, was es zu zaubern vermag.“ Da fragte Alfred: „Aber bekomme ich es wieder zurück?“ Als die beiden dies bejahten, bewegte sich plötzlich das Tuch in Alfreds Händen und flog auf die Mönche zu. Dann umwickelte es sie, bis man sie gar nicht mehr sehen konnte. Plötzlich fiel es zu Boden, die Mönche waren aber verschwunden. Da erschrak Alfred sehr und war völlig ratlos.

Er lief aus dem Klostergebäude heraus und sah eine Katze, die ihm zurief: „Was fürchtest du dich? Dir hat das Tuch schließlich nichts getan!“ Da war er sehr überrascht und fragte sie: „Woher weißt du denn, was da drinnen geschehen ist?“ „Ich bin eine weise Katze, ich weiß viel mehr als die meisten Menschen. Hab keine Angst! Das Tuch überfällt nur die, die lügen. Dann kommen sie in das Haus der Hexe, der das Tuch gehört“, antwortete sie. „Haben denn die Mönche gelogen?“, fragte Alfred. „Ja, natürlich. Die wollten das Tuch behalten. Aber diese beiden haben ihre Strafe verdient. Sie verurteilten stets andere, haben den Menschen gedroht, in die Hölle zu kommen, waren aber selbst unehrlich und ohne Barmherzigkeit.“ „Was passiert mit ihnen?“, wollte Alfred wissen. „Das kann ich nicht sagen. Mag sein, dass sie für die Hexe arbeiten müssen. Nur wenn man ihr geliebtes Spinnrad zerstört, kann man sie vernichten, das findet man jedoch nicht so leicht. Du nimm aber das Tuch und pass gut darauf auf. Wenn du wissen willst, ob jemand lügt, kannst du das Tuch gut gebrauchen.“ Alfred bedankte sich, holte das Tuch und nahm es mit. Auf dem Heimweg sah er eine junge Frau vor ihrem Haus sitzen. Er kannte sie gut und fragte sie: „Wie geht es dir?“ „Das geht dich nichts an“, antwortete sie schnippisch, „wie soll es mir wohl gehen, wenn ich den ganzen Tag arbeite!“

Da flog das Tuch aus seiner Tasche heraus und umwickelte die Frau, von der alle wussten, dass sie faul war. Dann war sie verschwunden und er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sie gefragt hatte. Als er bei seinem Häuschen ankam, saß der Vater davor auf einem Stuhl und fragte seinen Sohn, wo er denn gewesen sei. „Ich war bloß im Wald wandern!“, antwortete Alfred. Da flog das Tuch wieder aus der Tasche heraus und umwickelte ihn. Als er verschwunden war, erschrak der Vater heftig und fragte sich: „Was hat der Narr mit dem Tuch gemacht? Es hat ihn in Luft aufgelöst!“ Alfred befand sich nun im Haus der Hexe, war aber ganz allein in einem großen Raum. Es gab nur zwei sehr kleine Fenster, sodass es sehr finster war. Da gab es noch eine Türe und eine Treppe, die hinauf in das obere Stockwerk führte. Alfred blickte verwundert um sich, doch da hörte er Schritte von der Treppe her. „Ob das die Hexe ist?“, fragte er sich erschrocken und versuchte, den Raum durch die Türe zu verlassen, doch sie war verschlossen. Da fand er einen Schrank, in dem er sich versteckte. Weil er aber kaum Platz darin hatte, stand ein Fuß von ihm heraus. Kaum hatte er sich hineingezwängt, stand schon die Hexe da und suchte ihn. „Ja, wo ist er denn? Mein Rabe hat mir doch gesagt, dass jemand angekommen ist. Wieso finde ich ihn nicht?“, fragte sie sich.

Da sah sie seinen Fuß aus dem Schrank herausstehen und lachte. Dann packte sie den Fuß und sprach: „Das hast du davon, du entkommst mir nicht!“ Da wurde sein Fuß zu Stein und Alfred konnte ihn daher nicht mehr bewegen. „Entweder du kommst heraus oder ich werde dich ganz zu Stein verwandeln“, sagte sie böse lachend. Da kam er heraus, konnte aber kaum stehen wegen des steinernen Fußes. „Eigentlich warst du ganz artig, hast mir gleich vier Menschen hierhergebracht“, sagte sie schelmisch grinsend. „Lass uns frei!“, bat Alfred voller Angst. „Nein, das werde ich nicht! Lügner hab ich besonders gern, aus ihnen braue ich kostbare Zaubertränke. Denn in ihnen ist viel Böses, das ich nutzen kann“, erwiderte die Hexe. „Was hast du mit den anderen getan?“, fragte er. „Das ist meine Sache! Komm jetzt mit und sei still!“ Dann nahm sie ihn an der Hand und führte ihn die Treppe hinauf. Er tat sich sehr schwer beim Gehen und sagte: „Nicht so schnell! Du hast meinen Fuß doch zu Stein gemacht!“ „Halt den Mund! Du gehörst jetzt mir und ich darf mit dir machen, was ich will. Es ist gut, dass du nicht laufen kannst, so ist es dir nicht möglich, zu entkommen. Du bist ein kluger und flinker Junge und wärst mir zu gefährlich. Komm!“

Dann führte sie ihn durch einen langen Gang in einen kleinen Saal, in dem die zwei Mönche und die junge Frau gefesselt waren. Da erschrak er sehr und sagte: „Du boshafte Hexe! Lass uns sofort frei!“ Aber sie lachte laut auf und wollte ihn fesseln, doch er gab ihr mit seinem harten, steinernen Fuß einen Hieb in ihr rechtes Bein, sodass sie aufschrie. Dann lief er aus dem Saal und eilte in den langen Gang. Die Hexe heilte mit ihrer Zaubermacht den Schmerz im Bein und lief ihm nach. Er konnte aber nicht schnell rennen und als er sah, wie die Hexe ihm folgte, öffnete er in der Angst eine Türe, die sich gerade vor ihm befand. Hinter dieser war eine Treppe, die nach unten führte. Da an der Türe ein Schlüssel steckte, nahm er ihn und verschloss die Tür von innen, damit die Hexe nicht hineinkonnte. Dann hinkte er ängstlich die Stufen hinunter. Unten angekommen, sah er ein schönes Spinnrad. „Das wird wohl das sein, das ich zerstören muss“, dachte er sich. Dann sah er eine Axt, die er nahm und mit ihr das Spinnrad zerstörte. Doch es blieb alles wie vorher. Da entdeckte er noch ein Spinnrad, das aber kleiner und älter aussah. „Ob es wohl dieses sein kann?“, fragte er sich und zerstörte es mit der Axt.

Die Hexe war aber noch immer nicht besiegt, sie hatte sogar mit ihrer Zauberkraft schon die Türe aufgemacht und schrie: „Mein kostbares Spinnrad lässt du unberührt, du Tölpel!“ Da entdeckte er in der finsteren Ecke noch ein Spinnrad, das sehr marode aussah. „Es gibt hier kein anderes mehr! Ich muss versuchen, auch dieses zu vernichten!“, sagte er sich und humpelte dorthin. Als er auf das Spinnrad einzuschlagen begann, traf ihn der Zauberstrahl der Hexe. Aber ihre Kraft war bereits am Schwinden, weil das Spinnrad schon fast zerstört war. Alfred hatte jedoch nicht mehr viel Kraft, weiter darauf einzuschlagen. Er atmete tief ein und versuchte noch einen kräftigen Hieb zu machen, der ihm tatsächlich gelang. Das Spinnrad brach völlig zusammen und die Hexe schrie auf. Plötzlich stand er wieder vor seinem Haus mit voller Lebenskraft und geheiltem Fuß. Der Vater freute sich und fiel ihm um den Hals. Das Tuch der Hexe bekam jedoch eine graue Farbe und zerfiel. Alfreds Sieg über die Hexe wurde aber bald bekannt und er wurde daher geehrt und geschätzt. Er wollte von nun an auch nie mehr lügen. Ebenso wurden die junge Frau und die zwei Mönche ehrlich und aufrichtig, bekamen aber immer Angst, sobald sie ein Tuch erblickten.

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