Es war einmal ein Ritter, der reiste durch das ganze Land, bis er eines Tages ein kleines Männlein sah. Es rief: „Ritter! Wollt Ihr nicht helfen?“ „Wie soll ich dir helfen?“ „Seid Ihr denn tapfer und klug?“ „Na, hör mal! Ich bin Ritter Harald von Waldberg und weit und breit bekannt! Sag, was willst du denn?“ „Ihr sollt eine Burg befreien! Sie wurde von einem Zauberer verwünscht. Sie liegt im Sonnberg.“ Der Ritter wollte unverzüglich die Burg erlösen. Ohne überhaupt zu wissen, was er tun sollte, damit es ihm gelinge, ritt er los zum Sonnberg. Auf dem Weg dorthin dachte er sich: „Ich weiß nichts von einer Burg auf diesem Berg. Mich wundert es, dass ich sie nicht kenne.“ Als er vor dem Berg stand, suchte er die Burg, doch er fand sie nicht.
Also ritt er zurück zu der Stelle, an der er das Männlein getroffen hatte. Er fand es wieder und fragte es: „Auf dem Sonnberg gibt es doch gar keine Burg.“ „Ihr habt mir ja auch nicht genau zugehört. Ich habe gesagt, dass sich die Burg im Sonnberg befindet. Ihr müsst in den Berg gelangen, um sie zu finden und zu erlösen. Dann wird sie wieder wie einst auf dem Berg sein.“ „Wie komme ich den Berg und wie kann ich die Burg erlösen?“ „Das fragt Ihr erst jetzt? Ich kann Euch nur sagen, dass Ihr in der Burg niemandem trauen dürft.“ Der Ritter machte sich wieder auf den Weg und ritt zum Berg.
Dort suchte er nach einem Eingang in den Berg. Doch er fand keinen. Da erblickte er im Wald am Rand des Berges ein großes Ungeheuer, das sogar den furchtlosen Ritter erschreckte. Er wollte weggehen, doch vor Schreck stolperte er über eine Baumwurzel. Das hörte das Ungeheuer und es wachte auf. Doch der Ritter bat: „Tu mir nichts!“ Das Ungeheuer erwiderte mit seiner sehr tiefen Stimme: „Wenn du mich in Ruhe lässt, tu ich dir nichts! Ich will hier bloß schlafen nach meiner harten Arbeit.“ „Das kannst du. Aber darf ich dich fragen, ob es einen Eingang in diesen Berg gibt?“ Da stutzte das Ungeheuer und fragte verwundert: „Wieso willst du in den Berg? Da gibt es natürlich keinen Eingang; ich muss ständig die Felswand aufreißen, um hineinzukommen. Das ist ja meine Arbeit.“ „Aber wieso musst du hinein?“ „Jetzt wirst du schön langsam lästig. Ich muss den Burgbewohnern Essen bri… Ach, ich darf dir nichts erzählen!“ „Ich werde gleich gehen, doch ich würde gerne wissen, was es mit der Burg auf sich hat.“ Das Ungeheuer seufzte auf und sprach: „Du Nervensäge, ich darf dir nichts erzählen, mein Herr würde mich bestrafen.“
Da dachte sich der Ritter: „Vielleicht ist der Herr des Ungeheuers der Zauberer. Wenn es mich nur in die Burg bringen könnte.“ „Was stehst du noch hier?“, fragte das Ungeheuer zornig. „Wenn die Burg erlöst würde, müsstest du nicht mehr die Felswand aufreißen, oder?“ Da überlegte das Ungeheuer kurz und sagte: „Du scheinst ein kluger Kopf zu sein. Vielleicht bist du tatsächlich der, der die Burg erlöst. Weißt du was? Ich werde dir helfen. Denn wenn du sie erlöst, besiegst du auch meinen Herrn und ich bin wieder frei.“ Der Ritter war sich nicht sicher, dem Ungeheuer trauen zu können. Doch er hatte keine andere Wahl.
Das Ungeheuer ging zu einem unbewachsenen Teil des Hanges und riss mit seinen messerscharfen Zähnen die Felswand auf. „Alle drei Tage muss ich das tun, um den Burgbewohnern Essen zu bringen. Dann muss ich die Felswand wieder verschließen. Wenn du die Burg erlösen willst, befreie den Burgherrn aus dem großen Turm. Aber nimm eine Kerze mit!“ Der Ritter dankte dem Ungeheuer und ging in den Berg hinein. Er gelangte in einen stockfinsteren Gang. Doch er hatte aber auf den Rat des Ungeheuers eine Kerze mitgenommen. Nach einer Weile wurde es etwas lichter und er fand die schöne Burg. Es standen aber zwei Wächter vor ihr und sie waren verwundert, dass ein Mensch hierhergefunden hatte. Sie waren allerdings böse und hielten ihm ihre Schwerter entgegen. „Halt! Was macht Ihr da?”, fragte einer zornig. „Ich bin da, um die Burg zu erlösen!“, antwortete er. „Was? Wozu sollte die Burg erlöst werden?“ Da ergriff ihn der eine und wollte ihn in den Kerker werfen. Doch das sah eine junge Edelfrau von ihrem Fenster aus und sie rief dem Wächter zu: „Bring den Ritter zu mit herauf!“ Dieser gehorchte und führte den Ritter zu ihr. Sie begrüßte ihn freundlich und wollte ihn zum Essen einladen. „Ja“, sprach er, „aber wie kann ich denn die Burg erlösen?“ „Wir werden später über die Burg sprechen“, sagte sie. „Wird auch der Burgherr beim Mahl anwesend sein?“ „Nein, mein Mann ist verreist und kommt erst in ein paar Tagen wieder.“ Der Ritter war darüber sehr erstaunt und blickte zu dem großen Turm mitten in der Burg, in dem er glaubte, dass der Burgherr gefangen sei.
Nach dem Mahl fragte er die Edelfrau noch einmal: „Wie kann ich die Burg erlösen?“ „Die Burg muss nicht erlöst werden.“ „Doch, das habe ich erfahren. Eine Burg kann sich nicht im Berg befinden.“ „Sicher kann sie das. Seht Ihr denn nicht, dass sich unsere Burg in einem Berg befindet?“, erwiderte sie freundlich lächelnd. Der Ritter war sehr verwirrt und wusste nicht, was er tun sollte. „Diese Nacht noch seid Ihr unser Gast“, sagte sie und der Ritter schlief in der Burg. Am nächsten Morgen fragte er während des Frühstücks die Frau des Burgherrn noch einmal: „Muss denn die Burg tatsächlich nicht erlöst werden?“ „Nein, mein Ritter! Wir sind glücklich. Um uns braucht Ihr Euch nicht zu kümmern“, antwortete sie freundlich. Da fiel ihm ein, dass das Männlein gesagt hatte, dass er niemandem in der Burg trauen solle. So ging er nach dem Frühstück zum großen Turm und sah einen Wächter davorstehen, der zornig dreinblickte. Der Ritter sagte zu ihm: „Die Burgherrin ruft Euch.“ Der Wächter ging zu ihr, doch der Ritter wollte die Tür zum Turm aufmachen. Aber sie war fest verschlossen. Daher brach er sie mit seinem Schwert auf. Er rannte die Stufen hoch und als er ganz oben im Turm angekommen war, sah er wieder eine Tür. Er klopfte laut daran und ein Mann rief verwundert: „Wer ist da?“ „Ich bin ein Ritter und bin hier, um Euch zu erlösen!“ „Was? Wieso erlösen? Es gibt hier niemanden, den du erlösen kannst! Verschwinde sofort!“ Der Ritter rief zu dem Mann, den er für den Burgherrn hielt: „Macht auf! Sonst muss ich die Tür aufbrechen, um Euch zu retten!“ „Komm nicht herein! Ich bin ein gewaltiger Drache. Wenn du einbrichst, werde ich dich sofort mit Feuer bespeien!“
Der Ritter zögerte kurz, doch dann brach er mit dem Schwert die Tür auf und schrie: „Vorsicht!“ Doch der Mann rief: „Hör auf! Hör bloß auf! Wir wollen nur unsere Ruhe!“ Als der Ritter die Türe öffnete, begann die Burg heftig zu beben. Es staubte und rauchte und der Ritter wusste nicht, was da vor sich ging. Nach einer Weile merkte er, dass es deutlich heller geworden war. Da ging die Tür auf und der Mann kam heraus. Er sprach: „Ihr habt uns erlöst. Ich danke Euch. Weil wir verzaubert waren, haben wir geleugnet, erlöst werden zu müssen. Nun sind wir frei.“ Durch das Fenster in der Kammer des Burgherrn drangen die Sonnenstrahlen ein. Der Ritter freute sich, dass er die Burg erlöst hatte. Der Zauberer war besiegt und auch das Ungeheuer war frei. Die Burg befand sich wieder auf dem Berg und der Ritter wurde vom Burgherrn reich belohnt.
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