Das verwunschene Ei

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Das verwunschene Ei

Es war einmal ein wundersamer Vogel, der schneeweiße Federn hatte und goldene Eier legen konnte. Letztere waren aber von den Menschen sehr begehrt. Man erzählte sich nämlich, dass sich das Geld von demjenigen verdreifacht, der so ein goldenes Ei mit nach Haus nähme und das Junge dort schlüpfen ließe. Daher suchten die Menschen eifrig nach dem Vogel und seinen Eiern, aber er war nur sehr schwer zu finden. An einem warmen Frühlingstag baute der Vogel sein Nest in eine Fichte im tiefen Wald, unter der eine Hexe ein Häuschen hatte. Der schneeweiße Vogel legte ein Ei in sein Nest und bebrütete es. Da geschah es, dass er Vogeldreck auf den Kopf der Hexe fallen ließ, die darüber sehr erbost war. Sie brüllte: „Da macht mir dieser dumme Vogel auf den Kopf! Na warte!“ Da stieß sie einen Fluch aus und der Vogel flog daraufhin eilig davon; das goldene Ei war aber nun verflucht.

Ein paar Stunden später kam der Sohn eines bitterarmen Holzfällers zum Hexenhaus. Er wusste aber nicht, wer darin wohnte, und klopfte an die Tür. Doch es öffnete niemand, weil die Hexe gerade fortgegangen war. Er war auf dem Weg zu seinem Onkel gewesen, um ihn um etwas Essen zu bitten, denn er hatte großen Hunger. Doch nun konnte er vor Schwäche nicht mehr weiter und war völlig erschöpft und auch vom Weg abgeirrt. Er setzte sich verzweifelt auf den Boden und richtete seinen Blick zum Himmel. Da sah er in der Fichte das Nest des wundersamen Vogels. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er sagte sich: „Vielleicht sind da ein paar Eier. Ich klettere da hinauf und nehm sie mir mit, um sie zu essen.“ Gesagt, getan. Er kletterte hinauf und erblickte im Nest das goldene Ei. Er sagte sich: „Ach, Mist! Das Ei kann ich wohl nicht essen, weil es ein Zauberei ist! Das passiert wieder mir!“ Doch da fiel ihm ein, dass das jenes Zauberei sei, das den Reichtum eines Menschen um das Dreifache vermehrt. Er nahm es, kletterte hinunter und wollte nach Hause gehen. Aber er sagte sich: „Hm. Wie viel wird mir das kostbare Ei wohl bringen? Ich hab nur ein paar Groschen daheim. Wenn ich mehr Geld besitzen würde, würde mir das Ei viel mehr bringen.“ Da erblickte er ein kleines Vögelchen, einen Zaunkönig, und sagte zu ihm scherzend: „Ach, ihr Könige habt es leicht, ihr habt genug Geld! Würde ich nur eure Gunst bekommen, dann würdet ihr mir zu essen geben!“ Da ging ihm ein Licht auf. Er sagte: „Was ist, wenn ich dieses Ei zum König unseres Reiches bringe? Der hätte viel mehr davon und könnte seinen Reichtum damit verdreifachen. Aus Dank gibt er mir einen Teil seines Vermögens oder er gibt mir einen Adelstitel. Dann brauche ich nie wieder hungern.“ Da er vor lauter Hunger nicht mehr weit gehen konnte, suchte er nach Kräutern, fand aber in der Lichtung nur Brennnesseln, die er essen musste, um nicht zu verhungern.

Danach ging er zur Burg des Königs, die gar nicht so weit entfernt lag. Als er bei den Wachen um Einlass bat, wollten sie den abgemagerten, jungen Mann abweisen, doch er zeigte das goldene Ei, und sie ließen ihn widerwillig hinein. Denn jeder im Land wusste vom goldenen Ei. Als dann auch die Hofleute den jungen Mann zum König ließen, betrat er den Thronsaal und zeigte das goldene Ei. Der König fragte überrascht: „Wo hast du es denn gefunden?“ „Tief im Wald, einige Stunden von hier entfernt“, antwortete der Holzfäller. „So gib mir das Ei, es wird mir meinen Reichtum vermehren.“ „Ja, will ich“, antwortete der Junge, „aber ich möchte Eure Hoheit bitten, mir etwas zu geben. Ich bin so arm und leide großen Hunger.“ „Ja, das werde ich. Was wünschst du dir?“, fragte der König. „Ein Mahl, weil ich vor Hunger fast umkomme, fünftausend Goldstücke und gebt mir doch einen Adelstitel.“ „Das Mahl und die fünftausend Goldstücke kannst du gerne haben. Aber einen Adelstitel soll ich dir armen Jungen geben? Nun gut. Du hast es dir verdient. Dann sollst du Graf werden.“ Da freute sich der junge Mann und überreichte dem König das Ei, das dieser seinen Dienern übergab, die es wärmen sollten. Der Holzfäller durfte mit dem König Abendmahl halten und konnte die Nacht über in der Burg bleiben. Am nächsten Morgen bekam er noch etwas zu essen und wurde zum Grafen ernannt. Dann sagte der König zu ihm: „Die fünftausend Goldstücke erhältst du erst, wenn das Junge geschlüpft ist. Es wäre ja schade, wenn es die fünftausend Goldstücke nicht auch verdreifacht. Komm in ein paar Tagen wieder in meine Burg.“ Der junge Graf willigte ein und ging nach Hause.

Am nächsten Tag schlüpfte ein Junges aus dem goldenen Ei und alle in der Burg freuten sich. Als es geschlüpft war, flog es aus dem Fenster hinaus. Plötzlich begann ein Sturm, auf den bald ein starkes Gewitter folgte, obwohl noch gerade eben strahlender Sonnenschein geherrscht hatte. Da waren alle sehr erstaunt. Der König beschwichtigte: „Vielleicht bringt uns das Gewitter noch einen Geldregen.“ Doch das Gewitter wurde stärker und bald schüttete es so stark, dass das Wasser im Burggraben über die Ufer ging. Als das Gewitter endete, kam auf einmal ein riesiger Schwarm Mücken auf die Burg zu, der durch die gerade wieder geöffneten Fenster und Türen raste. Die Mücken waren sehr schnell und nur schwer zu fangen. Sie stachen viele und der König schloss sich mit seiner Frau in seine Kammer ein. Die Diener versuchten mit viel Mühe, die Mücken zu töten. Nach einigen Stunden hatten sie die meisten vernichtet.

Danach blickte der Schatzmeister in die Schatzkammer und sah mit Schrecken, dass nur mehr ein Drittel des Geldes da war. Bestürzt rannte er zum König und meldete ihm dies. Der erschrak heftig, geriet aber bald in große Wut. Er sagte: „Das war nicht das echte goldene Ei! Wahrscheinlich war der Holzfäller der Helfer einer Hexe! Wir müssen ihn finden und ich will, dass er lebendig in die Burg gebracht wird. Er muss uns verraten, welche Hexe ihm das aufgetragen hat! Und will er es nicht sagen, dann müssen wir ihn foltern!“ So begann im ganzen Land die Suche nach dem jungen Holzfäller. Es war in der Burg aber ein Knecht, der seit ein paar Jahren dort arbeitete und den Gesuchten gut kannte, weil er selbst in dessen Dorf gelebt hatte. Der Knecht glaubte nicht, dass der Holzfäller bösartig war, und eilte schnell zu seinem Dorf, um ihn zu warnen.

Der Holzfäller wusste aber nichts davon, dass er gesucht wurde, und lebte mit seinem Bruder und seinem Vater in einem erbärmlichen Häuschen im Wald. Als er zur Burg gehen wollte, um die versprochenen fünftausend Goldstücke zu holen, kam der Knecht gerade bei dem Häuschen an und sagte: „Du wirst vom König gesucht, denn dein Geschenk hat Unheil über die Burg gebracht! Er glaubt, du bist der Komplize einer Hexe!“ „Was ist denn bloß geschehen?“, fragte der Holzfäller ganz erschrocken. „Es war ein schreckliches Gewitter und auch eine ungeheure Mückenplage, so wie ich es noch nie gesehen habe. Ich wurde von zwanzig oder mehr Biestern gestochen, andere Leute in der Burg hatten noch viel mehr Stiche! Auch in der Schatzkammer soll angeblich nur mehr ein Drittel des Geldes da sein! Du musst unverzüglich das Land verlassen, denn sie wollen dich gefangen nehmen und bis zu einem Geständnis foltern!“ Der Holzfäller bekam große Angst, bedankte sich bei dem Knecht, sagte dann aber: „Ich kann doch gar nicht fliehen, ich habe kein Geld. Ich könnte nicht einmal in einem Wirtshaus übernachten.“ Der Knecht gab ihm ein paar Münzen und sprach: „Ich bin nicht reich, aber in der Burg verdiene ich doch nicht ganz schlecht. Daher nimm das hier. Du brauchst es. Viel Glück!“ Der Holzfäller umarmte den Knecht und bedankte sich vielmals bei ihm. Er packte noch seine Tasche und verabschiedete sich von seinem Vater und seinem Bruder. Dann eilte er sofort los.

Er ging durch den Wald über die Landesgrenze. Dann begann es zu dämmern und der junge Mann wurde müde. Plötzlich fand er ein kleines Häuschen. Er traute sich nicht, dorthin zu gehen, aber er wollte nicht im Freien schlafen aus Angst vor den Wölfen. Daher ging er zaghaft zum Häuschen und klopfte an die Tür. Da öffnete ihm ein alter Mann mit langem weißem Bart. Der sprach: „Komm herein! Hab keine Angst!“ Der alte Mann war aber sehr weise und wusste über viele Dinge. Der Holzfäller war darüber sehr überrascht und erzählte ihm seine Geschichte und wieso er im Nachbarland gesucht wurde. Da sagte der alte Mann: „Wahrscheinlich war das Ei verhext. Hier gibt es aber weit und breit keine Hexer außer mir und ich bin nicht bösartig. Ich weiß von einem Nest, in das so ein schneeweißer Vogel goldene Eier gelegt hat. Es liegt aber ein paar Stunden von hier entfernt. Wenn du es findest und siehst, dass da mehrere Eier drinnen sind, könntest du dir gleich zwei mitnehmen. Das eine würde den alten Besitz des Königs wiederherstellen, das andere würde ihn verdreifachen.“ „Ja, aber ich komme doch gar nicht mehr in die Burg, das ist zu gefährlich.“ „Lass das meine Sorge sein“, erwiderte der Alte, „hier lebt ein Storch ganz in der Nähe. Ich gebe ihm einen Zaubertrunk und er wird viel größer und du kannst auf ihm zur Burg fliegen und in sie gelangen.“ „Oh, vielen Dank! Weißt du was? Wenn ich durch den König zu Geld komme, gebe ich dir auch hundert Goldstücke!“ „Nein, das will ich gar nicht! Ich helfe dir Jungen doch gern! Das Geld hasse ich. Die Gier hat dich in Schwierigkeiten gebracht und auch der König ist für seine Gier bestraft worden.“

Am nächsten Tag ging der junge Holzfäller den besagten Weg zum Nest mit den goldenen Eiern. Auf ihnen saß aber der Vogel, um sie zu wärmen. Der Holzfäller warf einen Stein in die Nähe des Nests, sodass der Vogel erschrak und davonflog. Dann kletterte der Holzfäller schnell hinauf und fand drei Eier im Nest. Da dachte er sich: „Wieso nicht gleich alle nehmen? Durch das eine wird der König wieder gleich viel Geld wie früher haben. Durch das zweite Ei das Dreifache und durch das dritte Ei auch von diesem dreimal so viel. Dafür wird mir der König umso dankbarer sein. Womöglich macht er mich zum Herzog und ich kann viele tausend Goldstücke verlangen!“ Er nahm alle drei aus dem Nest und stieg mit ihnen behutsam vom Baum. Dann kehrte er zum alten Mann zurück, zeigte diesem aber nicht das dritte Ei. Der Alte hatte den Storch zu sich gerufen und ihm den Zaubertrunk gegeben. Dadurch wurde der Storch so groß, dass er den jungen Mann leicht tragen konnte. Dieser bedankte sich bei dem weisen Mann und setzte sich auf den Storch, der sogleich losflog. Während des Fluges hatte der Holzfäller Schwierigkeiten, sich am Vogel festzuhalten, weil er auch die drei Eier in einer Hand hatte und aufpassen musste, sie nicht zu zerdrücken. Da fiel ihm ein Ei hinunter und er dachte: „Das habe ich von meiner Gier. Der weise Mann hat mich belehrt, doch ich war stur.“

Als der Storch bei der Burg ankam, erschrak der König sehr und rief seine Soldaten. Der große Storch setzte sich aber an ein Fenster und der Holzfäller zeigte die zwei goldenen Eier. „Halt! Bleib weg, du Unglückstifter! Sonst werden dich meine Soldaten aufspießen!“, schrie der König. „Wartet, Eure Hoheit! Seht, das eine Ei bricht schon auf, da schlüpft schon ein Junges! Es wird Euch Glück bringen!“ Der König wollte ihn aber angreifen lassen, doch der Storch streckte seinen Kopf mit dem langen Schnabel durchs Fenster und die Soldaten erschraken. Das Junge schlüpfte und flog davon. Da wehte plötzlich eine herrliche Brise durch die Fenster und der König verlangte vom Schatzmeister, sofort in die Schatzkammer zu gehen. Der sah aber, dass wieder so viel Geld wie früher da war. Erfreut meldete er das dem König. Dieser war aber noch immer etwas misstrauisch und fragte den Holzfäller: „Es fällt mir noch immer schwer, dir zu glauben. Dein erstes Ei hat uns Gewitter, Mücken und Geldverlust gebracht.“ „Das muss verhext gewesen sein“, erwiderte er, „das tut mir leid. Aber diese Eier sind es nicht, sonst hätte sich das Geld nicht vermehrt.“ Der König nahm das zweite Ei an und befahl dem Holzfäller, so lange in der Burg zu bleiben, bis das Junge geschlüpft war. Der willigte ein und der Storch flog fort. Am nächsten Tag schlüpfte auch das andere Junge und das Geld in der Schatzkammer wurde verdreifacht. Da freute sich der König überschwänglich und sagte: „Du sollst die fünftausend Goldstücke bekommen, auch wenn du uns anfangs einen Schrecken angetan hast.“ Da antwortete der Holzfäller: „Nein, ich möchte nur tausend. Das genügt mir. Ich war zu gierig und ich habe daraus gelernt. Dreitausendfünfhundert Goldstücke sollen die Ärmsten des Landes bekommen und fünfhundert Goldstücke Knecht Sebastian, der mir geholfen hat. Auch ein Graf brauche ich nicht mehr zu sein.“ Der König willigte ein und tat, wie der Holzfäller wollte. Auch der König erkannte, dass er zu gierig gewesen war, und baute weitere Armenhäuser und senkte die Steuern.

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