Die verzauberten Haare

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal eine sehr reiche Frau, die war nicht nur stolz und eitel, sondern auch sehr herzlos. Sie besaß ein großes Haus, das einst ihrem verstorbenen Mann gehört hatte. Als sie eines Tages mit der Kutsche zu einer Bekannten fahren wollte, sprang plötzlich ein Zwerg aus dem Gebüsch heraus und die Pferde erschraken so sehr, dass sie ruckartig stehen blieben und die Frau dadurch in der Kutsche stürzte. Da wurde sie wütend und schrie zum Zwerg hinaus: „Du Tölpel! Deinetwegen bin ich gestürzt! Das wirst du büßen müssen!“ Da bekam der Zwerg Angst und bat: „Verschont mich! Ich werde Euch dafür verraten, wo sich der Zauberbrunnen befindet!“ „Welcher Brunnen? Willst du mich zum Narren halten?“, fragte sie zornig. „Der Zauberbrunnen“, antwortete er, erklärte ihr den Weg und lief davon. Da schrie sie: „Jetzt ist der Schurke davongelaufen!“ Doch der Kutscher beruhigte sie und sprach: „Was ist, wenn es wirklich solch einen Zauberbrunnen gibt? So eine Möglichkeit sollte man sich nicht entgehen lassen!“ Aber sie befahl ihm weiterzufahren und dachte nicht mehr darüber nach. Nach dem Besuch bei ihrer Bekannten fuhr sie wieder nach Hause zurück.

Dort erzählte sie am nächsten Tag ihrem obersten Diener von dem Vorfall mit dem Zwerg. Da sprach ihr Diener: „Es soll tatsächlich solch einen Zauberbrunnen geben, habe ich vor Jahren einmal gehört. Aber er sei auch schwer zu finden. Darüber hinaus soll er nur demjenigen etwas bringen, der ein gutes Herz hat!“ Da war sie überrascht und fragte: „Was zaubert er denn?“ „Er soll einem Menschen mit gutem Herzen die Haare unglaublich schön machen, wenn man sie mit dem Brunnenwasser wäscht!“ Da sagte sie: „Tatsächlich? Ach, hätte ich mir nur den Weg dorthin besser gemerkt!“ Dann dachte sie sich: „Ich könnte das gut gebrauchen! Sind doch meine Haare nicht mehr so schön wie früher und einige werden schon langsam grau!“ Sie ließ den Kutscher rufen und fragte ihn, ob er den beschriebenen Weg zum Zauberbrunnen noch wüsste.

Tatsächlich konnte er sich etwas genauer daran erinnern und die Hausherrin sagte zu ihrem obersten Diener: „Also werden wir bald sehen, ob der Zwerg die Wahrheit erzählt hat!“ Da fragte er: „Wen sollen wir nun zum Brunnen schicken, damit er das Wasser herbringt?“ Die Hausherrin erwiderte: „Lassen wir das eine Magd machen! Wir brauchen zurzeit jeden Diener im Haus, darum will ich keinen hinschicken.“ „Aber ob eine Magd zuverlässig ist? Die soll den unerforschten Weg zum Brunnen gehen?“, fragte der Diener zweifelnd. Darauf sagte sie: „Wer ist die zuverlässigste und fleißigste Magd? Die bringst du mir, ich erkläre ihr den Weg und dann werden wir sehen, ob es den Brunnen überhaupt gibt!“ Der Diener zögerte etwas, doch dann sprach er: „Die fleißigste und pflichtbewussteste Magd kenne ich wohl. Ob aber sie das Wasser holen soll?“ „Bring sie her!“, herrschte sie ihn an.

Dann brachte er die Magd und die Hausherrin sagte zu ihr: „Geh hin zum Zauberbrunnen und hol mir von ihm Wasser! Aber lass dir ja nicht einfallen, auch nur einen Tropfen zu verschütten!“ Sie beschrieb ihr den Weg und befahl ihr, das Wasser sofort zu holen. Doch die Magd erschrak und sprach: „Ich muss diesen unbekannten und unsicheren Weg gehen, ohne Hilfe? Ich bin doch nur eine einfache Magd! Wer weiß, wie weit weg das ist!“ Da wurde die Hausherrin zornig und sprach: „Schweig! Die Stelle, an der wir den Zwerg gesehen haben, ist nicht weit von hier entfernt! Von dort soll man bloß eine Stunde brauchen, um zum Zauberbrunnen zu gelangen. Geh nun und widersprich mir nicht!“

Die Magd gehorchte widerwillig und ging los. Der Weg zum Zauberbrunnen war ihr sehr unheimlich. An einigen Stellen war er durchaus beschwerlich und die Magd glaubte schon, umkehren zu müssen. Doch zu ihrem Erstaunen fand sie tatsächlich den Brunnen und freute sich sehr darüber. Als sie nun das Wasser mit dem Eimer hinaufziehen wollte, verschüttete sie etwas davon über ihre Haare. Sie dachte sich: „Das weiß die Hausherrin ja nicht! Also brauche ich keine Angst zu haben!“ Dann füllte sie das Wasser in ein Gefäß und ging zurück. Auf dem Heimweg fiel ihr aber auf, dass der Teil des Haars, der vom Wasser des Zauberbrunnens nass geworden war, auf einmal viel schöner aussah als der Rest ihres Haars. Da war sie sehr verwundert, wusste aber sofort, dass der Zauberbrunnen schuld daran war. Sie dachte sich: „Das darf die Hausherrin nicht sehen! Ich muss mein Haar unbedingt bedecken! Wegschneiden will ich die schönen Haare auch nicht!“

So nahm sie ein Kopftuch und versteckte ihre Haare darunter. Als sie im Haus angekommen war, überreichte sie der Hausherrin das Wasser, die sich sehr darüber freute. Die Magd arbeitete weiter und die Hausherrin wusch sich das Haar mit dem kostbaren Wasser. Doch dieses sah nicht schöner aus als vorher. Da kam die reiche Frau ins Grübeln und fragte sich: „Wer weiß, ob die Magd mir wohl Wasser von dem Zauberbrunnen gegeben hat? Vielleicht war es nur gewöhnliches Wasser?“ Sie dachte noch ein Weilchen nach, dann sagte sie: „Vielleicht wird man es erst morgen sehen!“ So begab sie sich ins Bett und schlief ein. Als sie am nächsten Morgen erwachte, betrachtete sie sofort ihre Haare, die noch immer unverändert waren. „Hat mich denn dieses falsche Ding tatsächlich angelogen?“, fragte sie sich verärgert. Sie stand auf, rief ihren Diener und sagte zu ihm: „Die Magd muss mich belogen haben! Meine Haare haben sich nicht verändert!“ Doch der Diener erwiderte: „Nun, das Wasser des Zauberbrunnens verwandelt nicht jedes Haar!“ Da schrie sie wütend: „Meinst du etwa, dass ich kein gutes Herz habe?“ Der Diener sagte beschwichtigend: „Oh nein! Das meinte ich nicht! Ich habe bloß keine Ahnung, wieso das Wasser nicht wirkt! Obwohl … Euer Haaransatz sieht womöglich noch etwas schöner aus als gestern!“ „Halt den Mund! Hol die Magd her! Ich will mit ihr reden!“, brüllte die Herrin erzürnt.

Der Diener ging los und wollte die Magd holen. Diese hatte aber bemerkt, dass über Nacht ihr ganzes Haar wunderschön geworden war. Darüber erschrak die Magd sehr und sie dachte sich: „Wenn das die Herrin sehen würde! Ich muss mir die Haare schneiden!“ Doch da klopfte der Diener an die Tür ihrer Kammer und befahl ihr, zur Hausherrin zu gehen. Die Magd nahm das Kopftuch, bedeckte damit ihr Haar und ging zur Hausherrin. Als diese sie sah, fragte sie: „Sag mir, hast du mir nicht das Wasser vom Zauberbrunnen gegeben?“ „Doch, das habe ich. Warum zweifelt Ihr?“, wollte die Magd wissen. „Ich glaube dir nicht! Ich werde eine andere Magd dorthin schicken! Vielleicht werden wir dann sehen, ob du die Wahrheit sagst!“

Dann schickte die Hausherrin eine andere Magd zum Brunnen. Diese verschüttete auch Wasser über ihr Haar, es wurde aber nicht schön dadurch, weil sie nicht so ein gutes Herz hatte. Als sie das Wasser ihrer Herrin überreichte, nahm diese es sofort und wusch sich gleich darauf die Haare. Doch es veränderte sich wieder nichts. Da sagte die Hausherrin erzürnt: „Das kann nicht wahr sein! Wer weiß, ob diese dummen Mägde vom Weg abgeirrt sind und Wasser von einem falschen Brunnen genommen haben! Oder sie haben mir absichtlich ein gewöhnliches Wasser gebracht!“ Da rief sie ihren obersten Diener und sagte zu ihm: „Morgen gehst du zum Zauberbrunnen und bringst mir das Wasser mit! Auf dich ist am meisten Verlass! Die paar Stunden werde ich dich wohl entbehren können!“ Die Magd, die zuerst beim Zauberbrunnen gewesen war, hatte sich jedoch ihr Haar ganz kurz geschnitten. Es war aber noch immer so schön, dass sie ein Kopftuch tragen musste. „Was ist, wenn das Haar mein Leben lang so bleibt?“, fragte sie sich besorgt. Doch es kam noch schlimmer, denn über Nacht wuchs das Haar und war wieder gleich lang wie vorher. Als die Magd am nächsten Morgen erwachte, erschrak sie sehr und schnitt sich erneut die Haare. Der Diener ritt auf seinem Pferd zum Zauberbrunnen, um schnell wieder daheim zu sein.

Die Hausherrin merkte aber, dass die Magd stets das Kopftuch trug und besorgt darauf achtete, dass es nicht verrutschte. So ging die Hausherrin zu ihr und fragte sie: „Versteckst du etwas unter dem Kopftuch? Es sieht so aus, als ob du Angst davor hättest, dass es dir herunterrutscht.“ Da erschrak die Magd sehr und wurde bleich vor Schreck. „Nein“, antwortete sie ängstlich, „was soll ich denn verstecken?“ Da riss die Hausherrin der Magd das Kopftuch herunter und sah ihre kurzen, aber wunderschönen Haare. „Oh, du hast das Wasser für deine Haare genommen, aber mir hast du ein gewöhnliches gegeben! Verlasse sofort mein Haus!“ „Habt Erbarmen! So war es nicht! Ich habe Euch das Wasser vom Zauberbrunnen gegeben, doch aus Versehen schüttete ich etwas davon auf mein Haar! Verzeiht!“, sagte die Magd. Doch die Hausherrin glaubte es ihr nicht und schickte sie weg. Die Magd packte ihre Sachen und verließ das Haus. Sie war sehr verzweifelt und setzte sich unter einen Ahorn, der neben einer Straße stand, die in die nächste Stadt führte. Der Diener hatte das Wasser des Zauberbrunnens aber der Hausherrin gebracht. Nachdem diese es angenommen hatte, wusch sie sich sofort das Haar, aber es war wieder nicht schöner geworden. Sie ärgerte sich so sehr darüber, dass sie das Gefäß, in dem das Wasser gewesen war, auf ein Fenster schleuderte, das sofort zerbrach.

Als die Magd unter dem Ahorn weilte, fuhr eine Kutsche vorbei, in der ein Herzog saß, der die arme Frau sofort erblickte. Er sah ihr kurz geschnittenes, schönes Haar und war sehr entzückt. Drei Stunden später fuhr er zurück in seine Burg und kam wieder am Ahorn vorbei. Da saß die Magd noch immer, mit den Händen vor dem Gesicht, weil sie weinte. Der Herzog wäre am liebsten stehen geblieben, fuhr jedoch weiter. Die Magd fand aber nirgends im Ort eine Unterkunft, so musste sie die ganze Nacht unter dem Ahorn schlafen. Am nächsten Morgen fuhr der Herzog mit seiner Kutsche wieder in den Ort, um die Magd zu sehen. Er hatte die ganze Nacht an sie denken müssen.

Als er sie unter dem Ahorn schlafen sah, erblickte er ihre schönen Haare, die wieder ganz lang geworden waren. Er weckte sie und sie erschrak darüber, dass da ein adeliger Mann vor ihr stand. Als sie aber mit ihm redete, verliebte sie sich in ihn. Er nahm sie mit in seine Burg und dort heirateten sie. Die Hausherrin war aber so verärgert, weil das Wasser bei ihr nicht wirkte, dass sie selbst mit der Kutsche zum Zauberbrunnen fuhr, obwohl der Weg teilweise sehr holprig war. Denn sie dachte sich: „Was ist, wenn sich auch mein Diener geirrt hat und er mir Wasser aus einem falschen Brunnen gegeben hat? Ich will mich selbst überzeugen!“ Sie wusch sich ihre Haare mit dem Wasser, doch es bewirkte wieder nichts. Von nun an hatte sie aber keine Ruhe mehr deswegen, lebte in Zorn und hatte keine Freude mehr an ihrem Reichtum.

© Anders Baumgartner. Alle Rechte vorbehalten.