Es war einmal ein Wolf, der war über alle Maßen gefräßig. Eines Tages sagte er sich: „Ich bin es leid, arme Mädchen zu fressen. Wie köstlich müsste eine Prinzessin schmecken? Das wäre das Allerbeste; wie zart müsste das sein?“ Da kam der Fuchs und sah das wehmütige Gesicht des Wolfs. „Wie siehst du denn drein? Hast du keine Hühner gefunden?“, fragte der Fuchs. „Hör auf zu scherzen! Ich will nicht mehr Hühner und arme Mädchen oder Jungen fressen.“ „Was ist denn los?“ „Ich würde so gerne eine Prinzessin fressen. Wenigstens nur einmal im Leben. Wenn mir das nur gelingen würde.“ Da sprach der Fuchs: „Nun, du müsstest in die Burg kommen. Dann wäre es sehr wohl möglich.“ „Aber die lassen doch keinen Wolf hinein.“ „Du musst klug sein und dich hineinschleichen. Ich würde das schaffen.“ Da wurde der stolze Wolf wütend und sprach: „Wenn du das kannst, schaffe ich das auch.“
Der Wolf ging zur Burg und sah die Wächter stehen. „Was soll ich jetzt tun? … Vielleicht kann ich sie ablenken.“ Da lief er auf sie zu, sie wollten auf ihn losgehen und rannten ihm nach. Er schaffte es aber, sie auszutricksen. Er tat so, als wolle er über den Burggraben springen. Doch dann lief er mit seinen schnellen Füßen in die andere Richtung. Doch die Wächter sahen in ihrem Eifer den Burggraben nicht und stürzten hinein. Der Wolf lachte und ging in die Burg. Ein wenig unsicher blickte er um sich, da er Angst hatte, dass ihn jemand sähe. Dann versuchte er, in das Burggebäude zu kommen. Immer wieder musste er sich verstecken, um nicht von Menschen gesehen zu werden.
Bald erblickte er eine Tür, hinter der eine Frau ein Lied sang. „Das ist bestimmt die Prinzessin“, sagte er sich, „nur die hat Zeit zu singen.“ Er klopfte laut an die Tür. Da erschrak sie und fragte: „Wer klopft denn da an die Tür?“ „Der König will mit Euch sprechen. Macht doch die Tür auf!“ Da machte sie auf, der Wolf sprang hinein und verschlang die Frau. „Schmeckt nicht zart und weich, aber an Bitterkeit sehr reich“, sagte er. Dann setzte er sich in die Ecke, um sie zu verdauen. „Ich habe den Leckerbissen zu schnell verschlungen. Aber so gut geschmeckt hat sie gar nicht.“ Da klopfte eine Frau an die Tür und rief: „Zofe! Zofe! Bist du hier?“ Als keine Antwort kam, ging die Frau wieder weg. Der Wolf griff sich an den Kopf und sprach: „Ich Dummkopf habe die Zofe gefressen!“ Dann würgte er sie heraus, nahm den Schlüssel, der an der Tür steckte, und sperrte die Kammer zu.
Er ging weiter und hörte hinter einer Tür ein Summen. „Das wird die Prinzessin sein; die Tür sieht edler aus.“ Er klopfte fest an die Tür. Da antwortete ihm die Frau: „Wer klopft denn da?“ „Der König will mit Euch sprechen. Macht doch die Tür auf!“ Da öffnete sie die Tür und der Wolf sprang wieder hinein und verschlang sie. Er sprach enttäuscht: „Schmeckt nicht zart und weich, aber an Bitterkeit sehr reich.“ Da klopfte wieder jemand an die Tür, diesmal ein Mann. „Kammerfrau! Die Prinzessin ruft dich!“ Der Mann klopfte und rief noch ein Weilchen, dann ging er weg. Der Wolf war aber zornig und sagte: „Jetzt habe ich Dummkopf die Kammerfrau gefressen! Wo ist denn die Prinzessin?“ Er würgte die Kammerfrau heraus und verschloss die Kammer. Dann sah er durch ein Fenster und erblickte die Prinzessin im Burggarten. „Da unten ist die Prinzessin! Hoffentlich haben die zwei Dienerinnen mir nicht den Geschmack verdorben.“
Er ging hinunter und wollte sich heimlich an sie heranschleichen. Doch sie merkte, dass da jemand hinter ihrem Rücken war, und sie fragte: „Wer ist denn da?“ Der Wolf war aber noch hinter einem Baum versteckt, vor dem die Prinzessin saß. „Bist du es, Kammerfrau?“, fragte sie. Da er keine Antwort geben konnte mit seiner tiefen Stimme, fragte sie: „So sprich!“ Er versuchte mit verstellter Stimme zu sagen: „Ja, ich bin es! Macht die Augen zu und ich gebe Euch etwas!“ Da wurde die Prinzessin stutzig wegen der tiefen Stimme, stand auf und warf einen Blick hinter den Baum. Sie erblickte den Wolf und erschrak heftig. Der wollte sich auf sie stürzen, doch da kamen zwei Diener, die den Wolf gefangen nahmen. Da sah er auch den Fuchs im Burggarten, der rief: „Wolf! Ich bin klüger als du! Ich habe mich hier hereingeschlichen, die Diener gerufen und dich ausgetrickst! Leb wohl!“ Ein Diener wollte auch den Fuchs ergreifen, doch der Schlaue entkam sogleich. „Da hat mich dieser Schuft reingelegt! Man darf keinem Fuchs trauen“, dachte sich der Wolf. Er erhielt seine Bestrafung und die Prinzessin, die Kammerfrau und die Zofe erholten sich von ihrem Schrecken.
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