Der Wolf und der Esel

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Der Wolf und der Esel

Es war einmal ein Esel, der war unglücklich mit seinem Los. Er musste jeden Tag viel schleppen und war seine Arbeit leid. Das Tier gehörte einem Mann, der in einem Haus neben dem Wald lebte. Eines Abends saß der Esel, der Erich hieß, neben dem Waldesrand. Da sah er plötzlich einen Wolf aus dem Wald herauskommen. Er hieß Rüdiger. „Du willst sicher die Hühner von meinem Herrn fressen“, sagte der Esel träge. „Fressen würde ich sie gern. Aber du bist ja da und auch der Hund deines Herrn. Leicht hab ich es nicht. Ich muss mein Fressen ja selbst erjagen, mir wird es nicht gegeben wie dir“, erwiderte der Wolf. „Du tust so, als ob ich es leicht hätte! Ich muss jeden Tag schleppen und wenn ich es nicht tun würde, gäbe es harte Schläge! Und auch nichts zu essen. Du kannst wenigstens frei im Wald herumstreifen!“ „Ach was, ein hartes Leben ist das!“ „Nicht härter als meines!“ „Willst du mit mir streiten? Du könntest doch keinen Tag überleben, wenn du wie ich durch die Wälder ziehen müsstest.“ „Du würdest die schweren Lasten nicht schleppen können.“ „Weißt du was? Lass uns doch zur Wunderquelle gehen. Mit ihrer Hilfe könnten wir Körper tauschen. Dann sehen wir, wer es schwerer hat.“ „Ich kann zu der nicht gehen. Du siehst doch, wie ermattet ich bereits bin. Darüber hinaus würde mein Herr meine Abwesenheit bald bemerken.“ „Siehst du, du traust dich nicht!“ „Doch, aber ich kann nicht dorthin gehen. Auch mein Herr würde verärgert sein, weil er mich nicht sähe.“ „Was ist, wenn ich dir das Wasser geben würde? Morgen Früh könnte ich es dir geben. Dann bin ich ein Esel und du ein Wolf.“ „Ja, dann machen wir das.“ Am nächsten Morgen brachte der Wolf dem Esel das kostbare Nass in einem alten Becher, den einst ein Mensch verloren hatte. „Ich hab davon schon getrunken; jetzt musst nur noch du.“ Dann sage ich den Reim und wir werden verwandelt. Der Esel trank das Wasser und der Wolf sprach:

„Wasser der Wunderquelle lausche
und unsere Körper vertausche!“

Da hatten sie plötzlich den Körper des anderen. „Nun geh du in den Wald!“, forderte ihn der einstige Wolf, der nun wie ein Esel aussah, auf. „Ja, gleich! Kurz liege ich hier noch, so wie ich es immer tue!“ „Das kannst du vergessen! Was ist mit deinem alten Herrn? Vor dem musst du dich nun in Acht nehmen, weil du jetzt ein Wolf bist.“ „Ach ja“, sagte der einstige Esel seufzend und stand auf. Dann setzte er hinzu: „Immerhin bin ich jetzt wendiger, da fällt mir das Laufen leichter. Wir sehen uns heute Abend wieder.“ „Abgemacht.“ Dann ging Erich in den Wald. Bald kam aber der Herr des Esels und verlangte von Rüdiger, schwere Lasten zu tragen. Dieser musste sich im Körper des Esels abmühen. Im Wald aber suchte Erich im Körper des Wolfs nach etwas zu fressen. Doch er tat sich sehr schwer dabei. Bis zum Abend hatte er kaum etwas zu essen gefunden und er ging müde zum Waldesrand. Da sah er den anderen vor dem Wald, der erschöpft dalag. „Hast du viel geschleppt?“, fragte Erich. „Ja, das musste ich.“ Dann richtete sich das Lasttier jedoch auf und sprach mit Überzeugung: „Aber so hart fand ich die Arbeit gar nicht. Auch zu essen habe ich bekommen, ohne danach suchen zu müssen.“ Da wurde Erich böse und sagte: „Das war erst dein erster Tag! Du wirst schon sehen, wie dich das zermürbt, wenn du das längere Zeit machen musst.“ „Wie hast du deinen Tag verbracht?“ „Oh … das war gar nicht so schlecht. Man muss nur suchen und schnappen, dann hat man was Leckeres zu fressen.“ „Jaja, du Großmaul! Wirst schon noch sehen, wie gefährlich du leben musst!“

Dann verzog sich Erich und ging in den Wald zurück. Am nächsten Tag hatten beide wieder viel zu tun. Am Abend sahen sie sich wieder und Erich fragte: „Viel geschleppt?“ Rüdiger antwortete: „Ja. Und hatte viel zu essen. Ich bin kaum müde.“ Dabei verstellte er sich sehr, denn er war todmüde. „Und mir geht es erst gut! Nun bin ich wie ein Herr im Wald und alle fürchten mich! Und der Wald bietet mir genug zu fressen!“ „Dann ist es ja gut!“ Daraufhin ging Erich wieder in den Wald zurück. Am nächsten Tag gelangte er in eine Lichtung, in der ein Jäger auf ihn schießen wollte. Er entkam ihm noch gerade rechtzeitig. Aber der Jäger hatte es auf ihn abgesehen und so konnte Erich sich kaum etwas zu fressen suchen, da er selbst gejagt wurde. Auch Rüdiger hatte wieder viel zu tun. Als sie sich abends trafen, hätte ein jeder von ihnen am liebsten gesagt, dass sie nicht mehr so weitermachen wollten. Doch beide waren zu stolz. Sie taten erneut so, als ob es ein recht guter Tag gewesen wäre. Es vergingen noch vier weitere Tage, dann war es ihnen endgültig zu viel. Als sie abends wieder zusammentrafen, sagte Erich: „Ja, ich geb’s zu, dein Leben ist recht hart.“ „Also willst du wieder zurück in deinen Körper?“ „Das hab ich nicht gesagt. Aber … oft hat man Hunger, weil man nicht genug fängt.“ „Ja, und mir tut alles weh vom Schleppen. Ich halte es natürlich aus, aber … du bist nicht als Wolf geboren worden und ich bin kein Esel. So ist es halt.“ „Du hast ganz recht. Ich werde zur Wunderquelle gehen und dir das Waser morgen Früh bringen.“ „Ja, das ist gut.“ Am nächsten Morgen brachte Erich dem Rüdiger das Wasser im Becher und nachdem dieser getrunken hatte, sprach Erich:

„Wasser der Wunderquelle lausche
und unsere Körper vertausche!“

Da hatten sie wieder ihre frühere Gestalt und waren recht froh. Auch wenn sie noch oft jammerten, sie wollten nicht mehr wie der andere sein.

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