Es waren einmal zwei Verlobte, die hießen Peter und Klara. Da sie noch nicht verheiratet waren, lebte er bei seinen Eltern und sie bei ihren. Eines Tages wollte er in den Wald eines nahen Berges gehen, den noch keiner im Dorf erkundet hatte. Doch seine Eltern hielten ihn davon ab und die Mutter sagte ernst: „In jenem Wald soll ein bösartiger Zauberer leben. Jeder, der ihn erblickt, kann nicht mehr lieben. Deswegen habe ich dir, als du noch ein Kind warst, gesagt, dass dies der einzige steirische Wald ist, den man niemals betreten darf!“ Peter hielt das für Geschwätz und ging am nächsten Tag mit seiner Geliebten in den verbotenen Wald. Dort sah er schöne Alpenveilchen und wollte sie für seine Liebste pflücken. Sie wartete in der Lichtung auf ihn. Er ahnte nichts, als plötzlich ein vornehm gekleideter Mann mit großem Hut vor ihm stand.
Da lief ihm ein Schauer über den Rücken und der geheimnisvolle Mann verschwand. Er wusste nun nicht mehr, wozu er Alpenveilchen pflücken wollte, und ging zur Lichtung zurück. Dort fragte er Klara: „Was tust du hier?“ Sie antwortete überrascht: „Ich wartete auf dich. Das weißt du doch.“ „Und warum wartest du hier?“, fragte er weiter. „Du stellst komische Fragen. Was ist denn bloß los mit dir? Ich dachte, du wolltest Blumen pflücken?“ „Was geht dich das an!“, antwortete er barsch und ging heim. Sie war darüber entsetzt und rannte ihm hinterher und fragte, was ihm denn zugestoßen sei. Aber er wurde nur noch wütender und ging seines Weges. Sie weinte aber bitterlich und verstand das alles nicht. In der nächsten Zeit litt Klara großen Kummer. Aber auch er war nicht glücklich, er wusste jedoch nicht wieso. Klara ging wieder zu ihrem Verlobten, der sie zornig abwies. Sie sprach: „Was ist dir im Wald widerfahren, dass du so lieblos geworden bist?“ Da fiel ihm die Begegnung mit dem sonderbaren Mann ein und was seine Mutter über den Zauberer jenes Waldes gesagt hatte. Obwohl er nicht mehr lieben konnte, war er aber auch nicht glücklich und wusste nicht, warum. Daher brach er am nächsten Tag auf, um wieder in den verbotenen Wald zu gehen. Er ging dort eine Zeit lang, fand aber den Mann nicht. Dann rief er laut: „Du geheimnisvoller Mann oder Zauberer, der du mir die Fähigkeit zum Lieben gestohlen hast! Wo bist du? Komm und zeige dich!“
Da blies auf einmal ein unheimlicher Wind und der Mann erschien. Dieser fragte: „Du Menschenkind! Wenn du nicht mehr lieben kannst, wieso hast du eine Sehnsucht danach?“ Peter antwortete: „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich einst glücklich war, aber jetzt bin ich es nicht mehr. Die Gefühle von damals sind mir unbekannt und ich kann sie nicht mehr verstehen. Du hast sie mir gestohlen. Gib sie mir wieder zurück.“ Da lachte der Geheimnisvolle laut auf und sagte: „Glaubst du, ich helfe dir, du Mensch? Ich bin ein bösartiger und mächtiger Zauberer. Von mir erwarte keine Hilfe.“ „Wieso tust du das? Warum bist du so grausam?“ „Weil ich ein Bösewicht bin, du Dummkopf … Aber wenn du in mein Reich kommst, könnte ich dir die Fähigkeit zu lieben wiedergeben.“ Da war Peter überrascht und willigte ein, ihm zu folgen.
Der Zauberer hob die Arme und es begann zu beben. Da entstand ein Loch im Waldboden. Eine schöne Treppe führte hinunter in die Tiefe. „Folge mir“, sagte der Zauberer und ging hinunter. Peter folgte ihm. Sie gingen eine Zeit lang, bis sie zu einem riesigen Tor kamen, das über alle Maßen verziert war. Der Zauberer rief laut: „Öffne dich!“ Da öffnete sich das Tor mit einem Beben und einem lauten Geräusch. Sie gingen dann in einen Raum, in dem der Fußboden rubinrot, die Decke aus Silber und die Wände aus Marmor waren. Dann öffnete der Zauberer ein goldenes Tor, das in einen riesigen Saal führte. Dieser hatte Wände aus purem Gold, kupferne Fußböden und eine Decke aus Diamanten. Peter war sehr erstaunt darüber. Da kamen drei Zwerge daher, die einstimmig zum Zauberer sagten: „Seid gegrüßt, Meister! Wie können wir Euch dienen?“ „Verschwindet!“, erwiderte er barsch und sie liefen davon. Dann wandte er sich zum Jungen und sagte zu ihm: „Nun habe ich dich in mein Reich gelockt. Jetzt kommst du nie wieder hier raus!“ Da wurde dieser sehr wütend und schrie: „Du Lügner! Führe mich sofort wieder heraus!“ Der Zauberer lachte laut auf und sprach: „Glaubst du, dass ich ehrlich bin? Ich bin bitterböse und wäre ich es nicht mehr, würde ich alle meine Macht verlieren! Niemals gebe ich nach. Du bist selbst schuld, weil du mitgegangen bist. Wage es ja nicht, gegen mich deine Hand zu erheben, denn ich bin von nun an dein Meister und willst du nicht gehorchen, kann ich dich jederzeit vernichten.“ „Was sollte ich denn für dich tun?“, fragte er verzweifelt. „Du sollst meine Befehle ausführen und mir helfen, Böses auf der Welt zu verbreiten.“ Dann führte der Zauberer ihn in einen anderen Saal, der nicht mehr so riesig war, aber ganz smaragdgrün. Dort sagte er zu ihm: „Das hier wird deine Schlafkammer sein.“
Klara hörte aber, dass ihr Geliebter verschwunden war, und machte sich Sorgen um ihn. Als er drei Tage lang von niemandem gesehen worden war, sagte sie zu seinen Eltern: „Seitdem wir im Wald auf dem Berg da waren, war er so merkwürdig und anders. Er schien auch nichts mehr für mich zu empfinden.“ Da erschraken die Eltern und erzählten ihr vom bösen Zauberer, der dort lebte. Da wurde ihr einiges klar und sie wurde sehr traurig. In der Nacht hatte sie einen Traum. Da sprach eine helle, sanfte Stimme zu ihr: „Geh zum Bach, denn dort findest du einen großen Holunderstrauch mit reifen Beeren, der auf weißen Steinen wächst. Nimm dir ein paar Beeren, zerquetsche sie und streich dir den Brei auf die geschlossenen Augen. Dann sag:
‚Des Zauberers Angesicht,
das schade mir nicht.
Muss ich ihn auch sehn,
meine Liebe bleibt bestehn.‘
Dann kannst du den bösen Zauberer im Wald unbeschadet ansehen. Geh aber nicht mit ihm in sein unterirdisches Reich! Nimm deinen Handspiegel mit und zeig dem Zauberer sein Spiegelbild. Tu ihn aber nicht aus deiner Tasche, bevor du den Zauberer siehst.“ Als Klara erwachte, kam ihr der Traum eigenartig vor. Sie ging aber zum Bach und sah tatsächlich einen Holunderstrauch auf weißen Steinen wachsen. Daher nahm sie ein paar Beeren und tat, was ihr im Traum gesagt worden war.
Dann ging sie heimlich in den verbotenen Wald. Dort erblickte sie auch den Zauberer. Sein Blick konnte ihr nichts anhaben. Er glaubte aber, dass sein Zauber wirkte. Klara hatte allerdings vergessen, ihren Handspiegel mitzunehmen, aber das fiel ihr erst in jenem Moment ein. Sie wusste auch nicht, wieso sie diesen hätte mitnehmen sollen. Ängstlich fragte sie den Magier: „Bist du der Zauberer?“ Er antwortete: „Warum willst du das wissen? Kümmere dich um deine Sachen! Du kannst doch nicht mehr lieben, wenn du mich gesehen hast.“ „Doch, ich kann. Du hast mir meinen Geliebten gestohlen. Gib ihn mir zurück!“ Da erkannte er, dass ein Zauber sie schützte. Zornig sagte er: „Ihr Menschen wollt bestimmen! Dabei sage ich, wo es langgeht! Nun, dann komm in mein Reich! Dort ist er!“ Er hob die Arme und es entstand wieder ein Loch im Boden. In diesem Moment fiel ihr die Warnung des Traumes ein, nicht in sein Reich zu gehen. Sie sprach: „Ich geh nicht mit dir mit! Gib ihn mir heraus!“ Da wurde er sehr zornig und schrie: „Glaubst du, ich lasse mir von dir was sagen?“ Dann befahl er: „Peter, du Taugenichts! Komm herauf!“ Dieser erschien sogleich und der Zauberer sagte zu ihr: „Sieh! Hier ist er! Aber er liebt dich nicht mehr. Wenn ich ihm gebiete, dich zu töten, würde er es auch tun.“ Sie erschrak und sagte zu Peter: „Liebster, du würdest so was doch nicht tun! Bitte!“ Da sprach der Zauberer: „Ich gebiete es ihm nicht. Denn ich sehe, wie du leidest, das gefällt mir viel besser. Wenn du tot wärst, hättest du keinen Liebeskummer mehr! Daher lasse ich dich lieber leben, damit du dich quälst und unglücklich bist. Oder du folgst mir in mein Reich, dort werde ich ihn dir dann zurückgeben.“ „Nein, ich gehe nicht mit dir mit, du Monster!“ Dann ließ er Peter wieder in das unterirdische Reich zurückgehen und sagte zu Klara: „Wie du willst! Du wirst dein ganzes Leben Liebeskummer haben!“ Und er ging hinunter in sein Reich. Klara warf sich zu Boden und weinte bitterlich.
Dann trat sie wieder den Heimweg an. Als sie den Wald verlassen hatte, sah sie in der Ferne auf einer großen Wiese ein Häuschen. Da sie erschöpft war, wollte sie dort Rast machen. Sie klopfte an die Tür und es öffnete ihr ein altes Mütterchen, das sie freundlich einlud. Im Haus fragte Klara die alte Frau, ob sie etwas vom Zauberer im nahen Wald gehört hätte. Sie schmunzelte und antwortete: „Ja, selbstverständlich, mein Kind! Mein Haus ist näher bei diesem Wald als jedes andere! Der Zauberer bleibt aber stets in seinem Wald, der kommt nie heraus. Außerhalb hat er nämlich keine Macht. Deswegen bin ich hier sicher. Aber die meisten würden sich nicht trauen, hier zu wohnen. Dabei gäbe es ein einfaches Mittel, um ihn zu besiegen.“ Da fragte Klara aufgeregt: „Welches denn?“ „Man müsste dem Bösen nur einen Spiegel vor das Gesicht halten. Wenn er sein Angesicht sehen würde, würde er alle Macht verlieren. Das habe ich einst in einem Traum erfahren. Daher fließt auch kein Bach von diesem Bergwald herunter, da er Angst hätte, dass er sich im Wasser sehen könnte. Ich wäre nur nicht flink genug, ihn zu überlisten, sonst hätte ich schon versucht, ihn zu besiegen.“ Da fiel Klara wieder ein, dass sie ihren Handspiegel hätte mitnehmen müssen. Sie ging danach heim und hatte in der nächsten Nacht wieder einen Traum, in dem die liebliche Stimme sprach: „Geh noch einmal zum Holunderstrauch, streich dir den Beerenbrei hinauf und sag den Spruch. Vergiss aber diesmal den Handspiegel nicht. Pack ihn im Wald des Zauberers nicht aus, bevor du ihn gesehen hast.“
Sie tat alles, wie es ihr aufgetragen wurde. Als sie aber im Wald war, fiel ihr plötzlich der Handspiegel aus der Tasche, die sie mit sich trug. Sie packte ihn sofort wieder ein, aber der Zauberer zeigte sich nicht. Dann rief sie ihn, doch es kam lange Zeit keine Antwort. Da wehte auf einmal ein unheimlicher Wind und sie merkte, wie sich der Spiegel in der Tasche bewegte. Sie warf einen Blick in die Tasche und sah, dass der Spiegel in lauter winzige Scherben zersprungen war. Da stand auf einmal der Zauberer hinter ihr und sie erschrak heftig. „Du dumme Gans! Du glaubst, du kannst mir etwas antun? Ich bin viel klüger als du und zerstöre alle Spiegel und Wasserflächen in meinem Wald! Aber woher weißt du, dass ich keine Spiegel mag?“, schrie er mit lauter Stimme. Sie schwieg vor Angst. So sagte er: „Du willst es mir nicht sagen? Auch gut. Aber dich lasse ich nicht mehr weg, du bist mir zu gefährlich. Du kommst mit mir in mein Reich.“ Er hob die Arme, damit das Loch in der Erde erschien, nahm ihre Hand und wollte sie in sein Reich zerren. Sie schrie aber auf: „Nein! Nein! Lass mich! Lass mich! Ich will nicht mit! Neeein!!“ Doch es half nichts, er zog sie einfach mit sich. Da sie sich aber zu sehr wehrte, sagte er: „Deine Beine und Arme seien mir gehorsam!“ Plötzlich konnte sie nicht mehr selbst über ihre Arme und Beine bestimmen und folgte ihm, ohne es im Innersten eigentlich zu wollen. Unten im riesigen Saal entriss er ihr die Tasche und hob erneut seine Arme. Plötzlich konnte sie sich wieder aus freiem Willen bewegen.
Dann öffnete er ihre Tasche und zerschmetterte mit seiner Zaubermacht die kleinen Spiegelscherben zu einem Brei. „Nun kann ich unmöglich mein Spiegelbild sehen. Ich muss jede erdenkliche Möglichkeit aus dem Weg räumen, mein Angesicht zu sehen. Jegliche Spiegel sind aus meinem Reich selbstverständlich verbannt. Siehst du die glänzenden Goldwände und den polierten, kupfernen Fußboden? Sie sind so glatt, dass man sein Spiegelbild sehen müsste, aber da sie von besonderer Art sind, ist das nicht der Fall. Und hier unten gibt es auch keinen Tropfen Wasser“, erzählte er ihr. Da erschrak sie und sagte: „Dann werde ich hier verdursten!“ „Nein, hier bei mir hat keiner Durst. Du wirst schon lange genug hier arbeiten, keine Sorge.“ Dann zeigte er ihre Kammer, die aquamarinblau war, und verlangte von ihr, im großen Hauptsaal den Fußboden zu polieren. Er verschwand aber und bald sah sie ihren Peter wieder. Doch der war nicht froh, dass er sie sah. Klara sagte voll Kummer zu ihm: „Du hast mich geliebt. Deine Gefühle können doch nicht verschwunden sein.“ Er empfand aber nichts für sie.
In diesem Saal hing ein gewundener Stab. Da fragte sie Peter, ob das ein Zauberstab sei. Er antwortete: „Ja, allerdings. Aber eigentlich hat er ihn sonst in seinem Schlafsaal. Er hat ihn anscheinend vergessen und hier hängen lassen. Rühr ihn bloß nicht an! Wer weiß, was passiert, wenn du ihn berührst! Darüber hinaus wirst du wohl nichts mit ihm anfangen können. Er kann nur zerstören oder Schlechtes erschaffen.“ Dann ging Peter wieder in seine Kammer. Klara dachte aber, was ihr hier denn Schlimmeres passieren könnte. Sie versuchte, zum Stab zu gelangen, aber er hing sehr hoch. Nur mit Mühe schaffte sie es, ihn zu erreichen und herunterzubekommen. Dann sprach sie: „Zaubere mir einen Spiegel!“ Da fing der Stab fürchterlich zu beben an. Sie erschrak zwar sehr, aber sagte dann, weil sie etwas anderes versuchen wollte: „Lass Peter und mich heraus!“ Doch er rührte sich nicht dabei. Da begann sie zu weinen und als ein paar Tropfen auf den Boden gefallen waren, fiel ihr ein, dass der Zauberer auch kein Wasser sehen wollte. „Nun, wenn du nur Schlechtes schaffen kannst“, sprach sie, „und auch keine Spiegel machen willst, dann zaubere mir doch durch meine Tränen eine Wasserflut!“ Da zuckte der Stab und die Tropfen am Boden wurden zu einer Wasserflut.
Da lief sie zu Peters Kammer, riss die Tür auf und sagte ihm, was sie gezaubert hatte. Bald kam auch der Zauberer zurück, doch wie erschrak er, als er das viele Wasser sah. Er wollte es wegzaubern, doch es war zu spät, denn er hatte darin bereits sein Spiegelbild gesehen, und schrie laut auf. Sein Reich fing zu beben an und er stürzte ins Wasser, weil seine Macht gebrochen war. Klara und Peter rannten durch das Wasser, um zum Eingangstor zu gelangen. Doch dieses ließ sich nicht öffnen. Klara wollte dem Stab einen Befehl geben, aber sie schaffte es nicht, da es so heftig bebte und die Wasserflut so stark war. Da half Peter ihr, den Stab zu halten. Angestrengt rief sie: „Stab, zerstöre das Tor.“ Da brach das Tor zusammen und die beiden liefen schnell hinaus und wollten zur Treppe eilen. Aber diese war nicht mehr da. Da fiel ihnen ein, dass sie gar nicht fliehen konnten, weil sie im Reich des Zauberers gefangen waren. Der Zauberstab konnte aber nur zerstören und Schlechtes erschaffen.
Da drohte das ganze Reich des Zauberers einzustürzen. Klara sagte nur schnell: „Stab, vernichte das Gestein, das auf uns stürzen will!“ Tatsächlich löste sich das Gestein, das auf sie zu fallen drohte, in Staub auf. Dadurch waren die beiden vor dem Tod gerettet und wurden nur von einer großen Menge Staub bedeckt. Sie sahen wieder das Tageslicht, standen allerdings ganz unten am Grund einer Grube. Der Zauberstab war zu einem Holzstück geschrumpft und konnte nicht mehr zaubern. Peter hatte aber die Fähigkeit zu lieben wiedererhalten. Er sagte: „Klara, ich kann wieder Liebe empfinden wie früher. Wir haben den Zauberer besiegt!“ Da freute sie sich so sehr und sie umarmten sich. Dann kletterten sie aus der Grube heraus, was ihnen nur mit Mühe gelang. Zu Hause angekommen, erzählten sie ihren Eltern von den Begebenheiten. Bald darauf heirateten die beiden und lebten glücklich bis an ihr Ende.
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