Es war einmal ein Zauberer, der hatte fünf Kinder, nämlich drei Jungen und zwei Mädchen. Als der Zauberer im Sterben lag, ließ er seinen ältesten Sohn zu sich kommen und sagte zu ihm: „Du weißt von der Kammer in unserem Haus, in die ich nie jemanden hineinließ. Nur ich habe den Schlüssel zu ihr. Ich gebe ihn dir; es ist der rote Schlüssel da. Die Dinge, die sich in der Kammer befinden, sind alles Zaubersachen. Sie sind sehr kostbar und mächtig. Du sollst sie nach meinem Tod gerecht unter deine Geschwister verteilen. Ein jeder von euch soll etwas von den Zauberdingen haben.“ Bald darauf starb der Vater. Der älteste Sohn nahm den roten Schlüssel und schloss die Kammer auf. Dann sagte er seinen Geschwistern, dass sie die Zaubersachen herausnehmen sollten, denn der Vater hatte es so gewünscht. Nur dem jüngsten Bruder erzählte er nichts davon, weil er ihn für zu unerfahren und dumm hielt. Die vier Geschwister nahmen alle Zaubersachen aus der Kammer heraus, aber da sie so gierig waren, dachten sie nicht an ihren jüngsten Bruder. Als sie ihn sahen, belächelten sie ihn nur und wollten ihm nichts abgeben. Unter den Zauberdingen waren magische Schwerter, Kleider, Schuhe und dergleichen. Nur eine Schwester hatte Mitleid mit ihrem jüngsten Bruder und gab ihm eine magische Kerze, die sie in der Kammer gefunden hatte. „Oh, bloß eine Kerze?“, fragte er enttäuscht. „Tut mir leid, Brüderchen. Mehr darf ich dir nicht geben, unsere Geschwister würden es nicht erlauben“, antwortete sie.
Es vergingen ein paar Jahre. Eines Tages verirrte sich ein großer Lindwurm in den Wald nahe dem Haus, in dem die fünf Geschwister lebten. Ihm war seine Höhle zerstört worden, aber er selbst war nicht besiegt worden, da er zu mächtig war. Weil ihm der Wald gut gefiel, wollte er bleiben und legte sich dort schlafen. Als zu dieser Zeit der älteste Bruder in den Wald ging, fand er das schlafende Ungeheuer und wunderte sich sehr darüber. „Was macht denn ein Lindwurm hier in unserem Wald?“, fragte er sich, ging nach Hause und berichtete das seinen Geschwistern. Diese erschraken und eine Schwester sprach: „Wenn das der eine mächtige Lindwurm ist, dessen Höhle zerstört worden ist, dann ist er wohl unbesiegbar. Er wird uns sofort verschlingen, wenn er uns sieht!“ Der älteste Bruder erwiderte schnell: „Nein, habt keine Angst! Was ist mit unseren Zaubersachen? Die haben auch viel Macht! Ich habe das große Zauberschwert, das auch kraftvolle Ungeheuer vernichten kann! Ich muss das Untier bloß im Schlaf überraschen.“ Dann nahm er das lange Schwert und ging zu der Stelle im Wald, an der der Lindwurm schlief. Doch dieser hatte feine Ohren und wachte durch die Schritte des Herannahenden auf. Der Lindwurm öffnete die Augen und packte mit seinem Maul das Schwert, noch bevor der junge Mann ihn angreifen konnte. Dann fraß der Lindwurm mit seinen messerscharfen Zähnen das Schwert, ohne Schaden zu nehmen. Der Mann fürchtete sich sehr und wollte fliehen, doch der Lindwurm verschlang ihn mit einem Bissen. Ein Fuchs hatte sich das alles angesehen und erzählte es den vier Geschwistern, die darüber sehr erschrocken waren.
Da sagte der zweite Bruder: „Dann will ich hingehen und meinen Bruder retten. Ich habe ein Beil, das Zauberkräfte hat. Damit schlage ich auf den Lindwurm ein. Ich fürchte mich nicht, denn ich bin flinker als unser Bruder.“ Obwohl die anderen Geschwister ihn davon abhalten wollten, ließ er sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Er ging zum schlafenden Lindwurm und wollte mit dem Beil auf ihn losgehen. Doch dieser hatte ihn wieder gehört, packte das Beil mit seinem Maul und fraß es, ohne Schaden zu nehmen. Der Bruder wollte daraufhin fliehen und lief ein Stück, doch der große Lindwurm war schneller und verschlang ihn mit einem Bissen. Der Fuchs hatte wieder zugesehen und meldete es den zwei Schwestern und dem jüngsten Bruder.
Da sagte die ältere Schwester: „Ich habe meine Zauberschuhe. Wenn ich die trage, kann man mich weder sehen, hören noch riechen. Dann nehme ich dieses magische Puder, mit dem ich den Lindwurm bestreue und dadurch besiege.“ Doch ihre jüngere Schwester und ihr kleiner Bruder wollten sie davon abhalten, aber sie erwiderte: „Irgendjemand muss es tun. Wenn ich meine Zauberschuhe trage, kann man mich nicht wahrnehmen und bin daher sicherer als unsere Brüder.“ Sie ging in den Wald und näherte sich mit ihren Zauberschuhen dem Lindwurm, der sie nicht hören konnte. Sie stolperte mit ihren Schuhen aber über eine Baumwurzel und stürzte zu Boden. Dabei verlor sie einen Schuh. Da konnte sie der Lindwurm hören und wachte auf. Er war aber sehr schlau und wusste, was es mit den Schuhen auf sich hatte. Gierig fraß er die Schuhe auf, warf die Dose mit dem Puder weg und verschlang das Mädchen. Der Fuchs hatte das wieder gesehen und erzählte das der jüngsten Schwester und dem kleinen Bruder. Diese erschraken sehr und waren sehr traurig wegen ihrer drei Geschwister. Da sagte die Schwester zu ihrem Bruder: „Weißt du was? Es bleibt mir nichts anderes übrig, ich muss versuchen, den Lindwurm zu besiegen. Nur dann können wir unsere geliebten Geschwister retten. Ich habe doch genau dieselben Schuhe wie unsere Schwester. Wenn ich sie trage, wird er mich nicht sehen, hören, riechen oder fühlen. Dann streu ich mein Zauberpuder auf ihn.“ Da erwiderte der Bruder: „Nein, du darfst das nicht versuchen! Unsere Schwester hat es ja auch nicht geschafft!“ Sie sprach: „Sie hat nicht aufgepasst. Ich werde Acht geben, dass ich nicht stolpere.“ Der Bruder hatte seine Schwester so gern wie niemand anderen auf der Welt und flehte: „Wenn du es schon tun willst, dann lass mich mitkommen.“ Sie wollte das aber nicht erlauben und ließ ihn daheim. Nachdem sie gegangen war, nahm er seine Kerze, die er einst von seiner Schwester bekommen hatte, und folgte ihr heimlich.
Als sie vor den Lindwurm trat, wollte sie ihn mit Puder bestreuen, doch der Lindwurm regte sich im Schlaf und sie erschrak dabei so heftig, dass sie stürzte und einen Schuh verlor. Da konnte der Lindwurm sie hören und wachte auf. Er fraß ihre Schuhe, warf die Dose mit dem Puder weg und wollte schon das arme Mädchen verschlingen. Der jüngste Bruder hatte das gesehen und sagte schnell zu seiner Kerze: „Kerzlein mein, es soll Licht sein.“ Da fing sie grell zu leuchten an und der Junge ging auf den Lindwurm zu und schrie: „Lass meine Schwester und gib mir meine drei Geschwister zurück!“ Das grelle Licht der Zauberkerze tat den empfindlichen Augen des Lindwurms so weh, dass er wehrlos liegen blieb und bald darauf die drei Geschwister ausspie. Diese freuten sich, wieder an der frischen Luft zu sein. Der Junge hielt dem Lindwurm die flammende Kerze aber noch immer vor das Gesicht, bis dieser entkräftet zusammenbrach. So hatte er mit der grellen Kerze, die heller als die Sonne schien, den lichtscheuen Lindwurm besiegt. Die Geschwister freuten sich und dankten ihrem kleinen Bruder, den sie von nun an ehrten und schätzten.
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