Das Zaubervöglein

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Das Zaubervöglein

Es war einmal ein alter König, der hatte keine Kinder, keine Frau und keine weiteren Verwandten. Daher wäre mit ihm das Herrschergeschlecht ausgestorben. So musste er sich überlegen, wen er als Nachfolger bestimmen könnte, doch es fiel ihm niemand ein. Es geschah aber, dass er im hohen Alter todkrank wurde. Da rief er seine fünf höchsten Berater zu sich und sagte: „Meine teuren Berater! Regiert über das Reich nach meinem Tod, bis ihr einen geeigneten Nachfolger für mich gefunden habt! Entscheidet euch für einen würdigen Mann!“ Bald darauf starb der König. Die fünf höchsten Berater wollten aber zusammen herrschen und gar keinen König haben. Doch da das Volk, die Hofleute und die Adeligen einen König haben wollten, versammelten sich die fünf Berater und entschieden, jenem die Königswürde zu geben, der eine Prüfung bestehe. Sie machten die Prüfungen aber derart schwer, dass sie niemand bestehen konnte.

In dieser Zeit ging ein junger Mann im Wald umher, der wollte auch zur Prüfung antreten, aber er traute es sich nicht zu, sie zu bestehen. Als er mitten im Wald war, sah er, wie ein Raubvogel ein wunderschönes Vöglein blitzschnell packte. Da rannte der Mann hin und warf einen Stein auf das Raubtier und es flog eilig davon. Er sah, dass das verletzte Vöglein goldene Federn hatte, was ihn sehr überraschte. Da fing es an zu sprechen und sagte: „Vielen Dank, junger Mann! Du hast mir das Leben gerettet!“ Der Mann fragte: „Was bist du für ein schöner Vogel?“ Dann antwortete es: „Ich bin ein Zaubervogel! Ich kann Wünsche erfüllen! Wenn du einmal in Not bist oder Hilfe brauchst, so rufe: ‚Zaubervöglein, Federn wie Gold, komm herbei und sei mir hold!‘ Dann werde ich bald herbeifliegen und dir helfen. Denn du hast mir das Leben gerettet, du hast es verdient.“ „Oh, ich hätte schon einen Wunsch! Ich will die Prüfung bestehen, um König werden zu können!“ „Nun, so schnell geht es nicht! Zuerst musst du eine Prüfung auferlegt bekommen! Dann werde ich dir helfen. Aber lass mich nun meine Verletzung heilen!“ Da verschwanden die Wunden des Vogels und er sprach: „Jetzt geh zur Burg und höre, was dir dort befohlen wird!“ Da flog das Vögelchen davon.

Der Mann ging am nächsten Tag in die Burg. Es hatte aber über Nacht geschneit. Die fünf Berater sahen, dass der Mann arm war, und wollten ihn nicht zum König haben. Sie verlangten von ihm, einen weißen Alabasterring im zugeschneiten Königswald, in dem der König einst jagte, zu finden. Der Mann war erschrocken, da er sich das kaum zutraute. Er ging in den Königswald und suchte eine Weile, doch er fand im hohen Schnee keinen Ring. Da rief er laut: „Zaubervöglein, Federn wie Gold, komm herbei und sei mir hold!“ Nach einem Weilchen kam das Zaubervöglein herbeigeflogen und fragte: „Nun, wie kann ich dir dienen?“ Der Mann antwortete verzweifelt: „Ich soll einen Ring aus weißem Alabaster hier im Wald finden.“ „Dann werde ich danach suchen“, sagte das Vögelchen und suchte eine Zeit lang und fand mit seinen unglaublich scharfen Augen den Ring im Schnee.

Da freute sich der junge Mann und bedankte sich herzlich. Als er wieder in der Burg war, zeigte er den Hofleuten stolz den Ring. Da erstaunten alle in der Burg, nur die höchsten fünf Berater wurden sehr zornig. Einer von ihnen sprach: „Nun, du hast ihn gefunden! Aber wer hat denn gesagt, dass es nur eine Prüfung gibt? Du sollst noch eine haben. Morgen wird ein Diener diesen Ring ins tief verschneite Mittelgebirge bringen und übermorgen sollst du ihn dort oben suchen!“ Da erschrak der Mann heftig und war sehr enttäuscht. Er wollte eigentlich gar nicht antreten, ging aber am übernächsten Tag doch ins Mittelgebirge hinauf. Der Schnee lag so hoch, dass er ihm bis an die Knie reichte, und der Wind wehte lauter Schneeflocken her. Er wusste nicht, ob der Vogel noch einmal kommen würde, aber er rief ihn doch: „Zaubervöglein, Federn wie Gold, komm herbei und sei mir hold!“ Dann kam dieser nach einer Weile herbei und fragte überrascht: „Nun, was willst du denn von mir? Was tust du hier oben?“ Da erzählte der verzweifelte Mann ihm alles und der Vogel versprach, ihm wieder zu helfen. Der Vogel suchte eine Zeit lang, doch dann fand er tief im Schnee den Ring. Da freute sich der Mann und bedankte sich vielmals. Der Vogel versprach auch, ihm wieder zu helfen, wenn er Hilfe brauche, denn er habe ihn lieb gewonnen.

Stolz zeigte der Mann in der Burg den Beratern den Ring. Alle staunten, doch einer der höchsten Berater sagte: „Nein, so einfach geht es nicht! Übermorgen soll deine dritte und letzte Prüfung sein! Morgen soll ein Diener diesen Ring auf den Berg da bringen, der höchste Berg unserer Gegend. Oben am Gipfel sollst du ihn suchen, dort, wo der Schnee so hoch liegt!“ Da erschrak der Mann sehr. Doch die Berater waren falsch und hinterlistig. Sie ließen diesmal den Ring gar nicht hinaufbringen, damit der Mann die Prüfung nicht bestehen konnte.

Am übernächsten Tag ging der Arme den Berg hinauf, doch es war ihm einfach zu beschwerlich. Als er bei einer Almhütte ankam, rief er: „Zaubervöglein, Federn wie Gold, komm herbei und sei mir hold!“ Da kam das Vögelchen und ließ sich vom Mann alles erzählen. Dann flog es zum Gipfel hinauf, an dem es stark schneite. Der Vogel suchte und suchte. Doch er fand keinen Ring. Fast völlig entkräftet kam der Vogel zum Mann zurück und schnaufte, dass er diesmal den Ring nicht finde. „Ist denn der Schnee so hoch da oben, dass du ihn nicht mehr finden kannst?“, fragte der Mann. „Nein, das ist es nicht! Er ist wirklich nicht da!“ „Aber er muss doch oben sein!“ „Mein Lieber, er ist nicht da! Meinen Augen entgeht nichts! Vielleicht hat ihn ein Tier verschleppt. Weißt du was? Ich zaubere aus einem Häufchen Schnee einen Alabasterring, mehr kann ich nicht tun.“ Der Mann stimmte zu und der Zaubervogel schuf einen Alabasterring, der genauso aussah wie der, den der Mann finden sollte.

Er brachte diesen Ring etwas verlegen in die Burg. Da lächelte ein hoher Berater und zog den echten Alabasterring aus einer Tasche. Dann sagte er in einem leisen, aber hochnäsigen Ton: „Sieh her! Da ist doch der Ring! Ich wollte deine Ehrlichkeit überprüfen! Niemand hat ihn hinaufgetragen! Du musst den in deiner Hand wohl gestohlen haben!“ Dann wurde er laut und schrie: „Du bist ein Dieb! Ein Betrüger! Wachen! Werft ihn in den Kerker!“ Der arme Mann wurde ganz bleich und von zwei Wachen in den Kerker gesperrt. Er war verzweifelt und wusste sich nicht zu helfen. In der Nacht sagte er vor dem Fenster seiner Zelle: „Zaubervöglein, Federn wie Gold, komm herbei und sei mir hold!“ Tatsächlich kam der Vogel ans Fenster und sagte: „Ich hätte dich kaum gehört, so leise warst du!“ Da antwortete der Mann dem Vogel flüsternd: „Bitte sei leise! Ich bin ja hier im Kerker!“ „Warum bist du im Kerker?“ „Weil die Berater mir einen Diebstahl anhängen. Sie sagen, ich habe den Ring gestohlen!“ „Diese … Nun, wie soll ich dir heraushelfen?“ Da überlegten beide und kamen auf eine Idee.

Der Vogel ließ daraufhin einen Sturm über die Burg kommen. Es stürmte von nun an Tag und Nacht über der Burg, bis der Schnee auf ihren Dächern weg war. Niemand wusste, wieso es so stürmte. Die höchsten Berater wollten den Mann aber heimlich hinrichten lassen. Als sie jedoch den Befehl dazu gaben, wurde der Sturm noch stärker, sodass dieser lauter Dachziegel herunterriss. Da erschraken sie und hatten Angst, dass der Sturm mit dem Mann zu tun habe. Sie geboten nun Einhalt und der Sturm wurde wieder schwächer; er hörte aber dennoch nicht auf. Die Berater wollten den Mann jedoch nicht zum König haben. „Ist das denn ein Zauberer, dass ihm der Sturm gehorcht?“, fragte einer. Dann gingen sie in den Kerker und fragten den Mann, ob er wisse, warum es so stürmte. Da antwortete er: „Das ist die Gerechtigkeit! Der alte König wollte bestimmt auch einen Nachfolger!“ „Aber da die letzte Prüfung nicht gilt, musst du noch eine Prüfung bestehen! Selbst wenn du diese nicht bestehst, wird doch der Sturm wohl enden?“ „Wenn ihr nicht schummelt, dann wird der Sturm bestimmt aufhören! Ich verspreche auch, nicht zu lügen. Aber ihr müsst es auch anerkennen, wenn ich die Prüfung bestehe.“ Sie verlangten von ihm aber, ein rot gefärbtes Ei aus dem eiskalten Wasser des Burggrabens herauszuholen, das sie zuvor hineingeworfen hatten.

Der Mann ging zum Burggraben und wartete schon auf den Vogel. Dieser kam, ohne dass er ihn rufen musste. Da legte der Vogel aber ein rotes Ei. Der Mann nahm es und brachte es den Beratern. Diese waren ganz außer sich und zornig darüber. „Das ist doch nicht möglich!“, schrie einer erbost. Doch da zersprang das Ei und es kam ein kleiner Drache heraus, der augenblicklich groß wurde. Er brüllte die Berater an: „Ihr herrschsüchtigen Bösewichte! Der Mann hat die Prüfungen bestanden und wird nun König!“ Dann spie der Drache so stark Feuer, dass die Berater voll Angst aus der Burg liefen und sich nie mehr blicken ließen. Somit hörte auch der Sturm über der Burg auf und der Drache wurde mit dem Zaubervöglein eins. Der Mann wurde zum König gekrönt und der Zaubervogel blieb im Schloss und beriet ihn.

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