Der zerbrochene Krug

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Der zerbrochene Krug

Es war einmal ein Mann, der hatte elf Kinder. Die fünf ältesten waren von seiner ersten Frau, die sechs jüngeren von seiner zweiten. Ein paar Jahre, nachdem auch diese gestorben war, verliebte er sich in eine wunderschöne, junge Magd. Er heiratete sie und liebte sie mehr als seine beiden ersten Frauen. Sie gebar ihm eine Tochter, die so liebreizend war, dass sie alle liebhaben mussten. Doch dem Mann war wenig Glück beschieden, denn auch seine dritte Frau starb. Dadurch wuchs ihm seine kleinste Tochter noch mehr ans Herz. Eines Tages ritt der Mann zu einem Bekannten. Auf dem Weg dorthin hörte er ein lautes Jammern im Gebüsch. Er hielt an und stieg vom Pferd.

Dann warf er einen Blick ins Gebüsch und sah ein Zwerglein, das sich mit seinem Bart und seinem Gewand in einem Dornengestrüpp verfangen hatte. „Hilf mir! Bitte hilf mir! Ich werd’s dir vergelten!“, rief der Zwerg mit näselnder Stimme. „Was willst du mir denn geben?“, fragte der Mann. „Ach, hilf mir doch endlich! Seit drei Stunden bin ich hier gefangen und habe Durst!“ Da befreite ihn der Mann und der Zwerg sprach: „Hab Dank! Ich verfüge zwar über keine Zaubermacht mehr wie früher, als ich noch jung war, aber ich bin sehr weise und kann dir jederzeit Rat geben!“ „Na, geschickt bist du jedenfalls nicht. Du hättest ein wenig aufpassen müssen, dann wäre dir das nicht passiert.“ Das verärgerte den Zwerg, weil ihn das beschämte, und er sagte: „Das kann jedem passieren. Ich bin ausgerutscht und habe mich dann im Gestrüpp verfangen.“ „Kannst du mir denn kein Gold geben? Du hast mir versprochen, dass du es mir vergelten wirst!“ Da machte der Zwerg ein bitteres Gesicht und schimpfte: „Ich würde dir helfen, wenn du Rat brauchst, aber das willst du nicht! Hättest du einem armen Menschen geholfen, hätte er dir auch nichts geben können.“ Dann stapfte der Zwerg weg und ging in ein Häuschen, das hinter einer mächtigen Fichte stand. Der Mann stieg wieder aufs Pferd und ritt zu seinem Bekannten. Auf dem Heimweg kam ein Sturm auf und der Mann ritt daher zu einem Haus, das etwas abseits vom Weg lag. Dort stellte er sich an einen windstilleren Platz hinter dem Haus. Da sah er einen Krug auf einer Stufe vor dem Eingangstor. Durch den Sturm stürzte der Krug schließlich um. Der Mann ging hin und sah, dass ein Stück abgebrochen war. „Der Krug ist wunderschön. Warum der hier draußen stand? Ich habe noch nie einen schöneren gesehen. Da er ein wenig beschädigt ist, werde ich ihn wohl mitnehmen können. Vielleicht kann man ihn ja doch noch richten. Dann werde ich ihn meiner Kleinen geben.“

Er tat den Krug in seine Tasche, doch da öffnete jemand die Tür. Es war ein großer Mann mit finsterem Blick. „Was machst du Dieb mit meinem Krug?“, fragte er. „Verzeiht! Ich wusste nicht, dass Ihr ihn noch braucht! Er lag da beschädigt vor dem Haus!“ „Lüge nicht! Du Dieb sollst deine Strafe bekommen. Von nun an wirst du hierbleiben und mein Diener sein!“ Da erschrak der Mann sehr, fiel auf seine Knie und bat: „Nein, ich bitte Euch! Ich habe zwölf Kinder; für die jüngsten muss ich mich auch noch sorgen! Ihr könnt mich nicht hierbehalten!“ Der Fremde sprach: „Nun gut! Dann möchte ich aber etwas anderes von dir!“ „Ich bin wahrlich kein reicher Mann, aber ich werde Euch etwas davon geben, was mir gehört!“ „Großartig! Aber du musst mir etwas Gutes geben! Warte!“ Da verschwand der Fremde für wenige Augenblicke im Haus und kam mit zwölf Kugeln zurück. Er legte sie auf den Boden und sprach: „Eine jede Kugel stellt eine deiner größten Besitztümer dar. Suche dir eine Kugel aus, damit ich weiß, was du mir schenken willst!“ Der Verängstigte sah sich die Kugeln an und bemerkte, dass die linkste die größte und die rechteste die kleinste war. Letztere war aber auch die bei weitem schönste. Er deutete mit dem Finger auf sie und sagte: „Diese hier hab ich mir ausgesucht. Sie ist zwar klein, aber schön. Vermutlich ist das der eine Kasten in meinem Schlafzimmer!“ Da lächelte der Fremde und sprach: „So sei es!“ „Muss ich es dir bringen?“ „Nein, ich hole es mir selbst, wenn der Mond eine aufgehende Sichel ist und die Wolken ihn verschleiern.“ Bald legte sich der Sturm etwas und der Familienvater ritt nach Hause. Er erzählte aber seinen Kindern nichts von den Geschehnissen.

Es vergingen zwei Wochen, dann schien über den Wolken die Mondsichel. Plötzlich hörten alle im Haus einen kurzen, lauten Schrei. Sie schreckten auf und ein paar Kinder verließen ihre Kammern und riefen nach ihrem Vater. Der versuchte sie zu beruhigen und dachte sich: „Ob da irgendwo der Fremde war?“ Am nächsten Morgen erschrak der Vater, als sein jüngstes Töchterchen nicht mehr da war. „Wo ist denn die Kleine bloß?“, fragte er sich besorgt. Da fiel ihm ein, dass er sich die kleinste Kugel ausgesucht hatte und dass diese seine jüngste Tochter bedeutete. In seinem Schrecken ritt er zum Haus, in dem der Fremde lebte. Auf dem Weg dorthin sah er das Gebüsch, in dem er den Zwerg gesehen hatte. Er ließ sein Pferd anhalten, stieg von ihm herunter und ging zum Häuschen hinter der mächtigen Fichte. Dort lebte der Zwerg. Der Mann bückte sich ein wenig und klopfte an die Tür.

Da machte der Zwerg schimpfend auf und fragte: „Was willst du denn hier?“ „Ich brauche wirklich deine Hilfe! Weißt du, wo mein geliebtes Töchterchen ist? Ist sie bei dem Zauberer im gelben Haus hinter dem Rabenfeld?“ „Meine Weisheit ist dir doch nichts wert, frage mich also nicht!“ Da wollte der Zwerg die Türe zumachen, doch der Mann sagte: „Nein! Bitte, hilf mir! Ich habe dir auch geholfen!“ „Ich weiß nicht, wo deine Tochter ist! Wenn du mir aber etwas von dem besagten Mann gibst, kann ich vielleicht herausfinden, womit man ihn besiegen kann, wenn er ein Zauberer ist!“ Da ritt der Mann weiter bis zum Haus des Fremden. Er klopfte an die Tür und bald darauf öffnete ihm der Unbekannte. „Seid gegrüßt! Ich will Euch nur fragen, ob Ihr mein Töchterchen habt?“ „Du wolltest sie mir ja geben, da du die kleinste Kugel ausgesucht hast. Mach dir keine Sorgen um sie. Es geht ihr gut.“ „Lass sie frei! Ich bitte Euch!“ Da antwortete der Fremde: „Du kannst bitten und betteln, es nützt dir doch nichts. Ich behalte immer alles, was ich einmal besitze.“ Der Vater wurde traurig und bat: „Ich will mit ihr reden.“ „Das gestatte ich dir!“ Dann ließ er die Tochter kommen und der Vater sagte: „Ich habe einen Fehler begangen und jetzt musst du Arme büßen!“ Sie sprach: „Vater, ich will nach Hause! Ich vermisse dich und meine Geschwister so sehr!“ Er erwiderte leise: „Ich werde dich hier schon herausbekommen.“

Der Fremde stand aber drinnen im Flur und nahm das Kind an der Schulter und sprach: „Komm wieder herein, du bist meine Magd und musst für mich kochen!“ Sie ging wieder hinein und der Vater sagte noch zum Unbekannten: „Versprecht mir, milde zu ihr zu sein!“ Dann schloss dieser die Tür. Der Vater begann zu weinen und war sehr verzweifelt. Er setzte sich auf den Boden und senkte seinen Kopf. Da sah er eine ganz kleine Scherbe des Krugs liegen. „Dass der Fremde die nicht gesehen hat? Ich könnte das doch dem Zwerg zeigen, vielleicht weiß er dann, wie wir den Zauberer besiegen können.“ Er ritt in Windeseile zum Zwerg und dieser nahm die kleine Scherbe und betrachtete sie genau. „Oh, ich kenne den Zauberer sehr wohl! Wenn man ihm Enzianblüten ins Essen gibt, verliert er seine Macht. Es muss aber jener Enzian sein, der im Frühherbst blüht und in den tieferen Tälern wächst.“ „Aber das dauert noch zwei Monate bis dahin.“ „Dann musst du warten. Wenn es soweit ist, kann deine Tochter dem Zauberer die Blüten ins Essen mischen.“ Der Mann ritt nach Hause und bangte zwei Monate lang um seine Tochter. Als sich dann der Sommer dem Ende zuneigte, ging der Mann in eine Lichtung im Wald und suchte nach dem besagten Enzian. Er sammelte ein paar Blüten und tat sie in ein Säckchen. Dann ritt er schnell zum Zauberer und klopfte an die Tür. Doch dieser öffnete ihm nicht und rief nur hinaus: „Du hast mit deiner Tochter bereits gesprochen! Das genüge dir!“ Der Mann war verzweifelt und ritt entmutigt nach Hause. Daheim erzählte er das seinen Kindern. Da sagte ein Sohn: „Vater, lass mich zu ihm reiten! Ich bin klug, vielleicht wird mir der Zauberer gewähren, mit ihr zu sprechen.“ Doch der Vater wollte es ihm nicht erlauben. Weil der Sohn aber nicht aufhörte zu bitten, erlaubte er es ihm. Der Sohn ritt los und als er an die Tür des Zauberers klopfte, öffnete er sie mürrisch und fragte: „Was willst du denn hier?“ „Ich bin ein Bruder des Mädchens, das bei Euch arbeitet, und ich möchte mit ihr sprechen.“ „Hau ab! Dein Vater war schon da! Ich will hier kein Familientreffen!“ So musste der Sohn unverrichteter Dinge fort und erzählte das seiner Familie.

Da wollte der zweite Bruder hin und nachdem sein Vater es ihm erlaubt hatte, ritt er zum Zauberer und klopfte an die Tür. Zornig öffnete dieser sie und fragte: „Was willst du?“ „Ich will mit dem Mädchen reden, das bei Euch arbeitet.“ „Ach, dann bist du noch einer von dieser Sippschaft. Verschwinde!“ „Lasst mich mit ihr sprechen, ich bitte Euch!“ Doch der Zauberer ließ nicht mit sich reden und vertrieb den jungen Mann. Dieser ritt nach Hause und erzählte das Geschehene allen. „Dann können wir nichts mehr tun“, klagte der Vater und tat seine Hände vor das Gesicht. Auch zwei weitere Söhne und die sechs Mädchen waren ratlos. Nur ein Sohn, er war jung und grün hinter den Ohren, sagte zu seinem Vater: „Lass mich doch auch dorthin reiten!“ „Nein, das bringt nichts! Du bist auch zu klein und kannst kaum reiten! Das wäre alles zu gefährlich.“ „Aber Vater! Ich bin schlau und geck. Lass es mich bitte versuchen.“ Doch der Vater erlaubte es ihm nicht. So nahm der Junge heimlich das Säckchen mit den Enzianblüten und ritt unbemerkt zum Haus des Zauberers. Dort klopfte er an die Tür. Der Mann öffnete sie voll Wut und schimpfte: „Was willst du Knirps denn hier?“ „Ich will meine gute Freundin besuchen. Bitte erlaubt es mir!“ „Dann soll aber niemand von ihren Freunden sie mehr sehen dürfen! Ich will endlich meine Ruhe haben!“

Da holte er das Mädchen und der Junge umarmte es und steckte geschickt das Säckchen mit den Blüten in ihre Schürzentasche, ohne dass es der Zauberer bemerkte. Der Junge flüsterte seiner Schwester ins Ohr: „Tu ihm die Blüten ins Essen, dann ist er besiegt.“ „Halt! Sprecht laut!“, rief der Zauberer. „Ach, wie schön ist es, dich zu sehen! Du siehst noch immer hübsch und wohlgenährt aus!“, sagte der Bruder und er verabschiedete sich von seiner Schwester. Dann ritt er weg. Das Mädchen kochte aber eine Suppe und tat die Blüten hinein. Als der Zauberer sie gegessen hatte, fühlte er sich auf einmal schwach. „Magd, gib mir einen Trank von da hinten. Ich muss mich damit stärken“, befahl er ihr. Da bemerkte das Mädchen, dass es eine Enzianblüte vergessen hatte und tauchte sie in den Trank. Dann gab es ihn dem Zauberer und er trank daraus. Da sah er, dass eine Blüte darin schwamm, und er erschrak sehr. Plötzlich entstand ein Rauchqualm und der Zauberer verschwand darin. Das Mädchen konnte das Haus verlassen, wusste aber den Weg nach Hause nicht. Doch der Bruder, der ihm die Blüten gegeben hatte, hatte sich im nahen Wald versteckt und auf sein Schwesterchen gewartet. Er ritt auf es zu und sagte: „Komm herauf, dich nehme ich mit!“ Da freute es sich und setzte sich hinauf. Sie ritten zum Vater zurück, der sich wie die anderen Geschwister über alle Maßen freute.

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